Links/rechts [Left/Right] PDF

Title Links/rechts [Left/Right]
Pages 10
File Size 296.7 KB
File Type PDF
Total Downloads 222
Total Views 634

Summary

HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS UNTER MITWIRKUNG VON MEHR ALS 800 WISSENSCHAFTLERINNEN UND WISSENSCHAFTLERN HERAUSGEGEBEN VON WOLFGANG FRITZ HAUG FRIGGA HAUG, PETER JEHLE UND WOLFGANG KÜTTLER BAND 8 / II LINKS / RECHTS BIS MASCHINENSTÜRMER ARGUMENT Wissenschaftlicher Beirat Samir Amin...


Description

HISTORISCH-KRITISCHES

WÖRTERBUCH DES MARXISMUS

UNTER MITWIRKUNG VON MEHR ALS 800 WISSENSCHAFTLERINNEN UND WISSENSCHAFTLERN

HERAUSGEGEBEN VON WOLFGANG FRITZ HAUG FRIGGA HAUG, PETER JEHLE UND WOLFGANG KÜTTLER

BAND 8 / II LINKS / RECHTS BIS MASCHINENSTÜRMER

ARGUMENT

Wissenschaftlicher Beirat Samir Amin (Dakar), Étienne Balibar (Paris), Narihiko Ito (Tokio), Fredric Jameson (Durham), Bob Jessop (Lancaster), Domenico Losurdo (Urbino), Isabel Monal (Havanna), Pedro Ribas Ribas (Madrid), Gabriel Vargas Lozano (Mexico City), Victor Wallis (Somerville), Yin Xuyi (Peking), Moshe Zuckermann (Tel Aviv) Redaktion Wolfram Adolphi, Frigga Haug, Wolfgang Fritz Haug, Peter Jehle, Wolfgang Küttler Jan Loheit, Ruth May, Christof Ohm, Thomas Pappritz, Ingo Pohn-Lauggas, Jan Rehmann, Bernd Röttger Hansjörg Tuguntke, Oliver Walkenhorst, Thomas Weber, Christian Wille In der Wörterbuch-Werkstatt wirkten ferner mit Lutz Brangsch, Fabian Bremer, Rolf Czeskleba-Dupont, Michael Flörsheimer, Ruedi Graf Hartmut Haberland, Frank Heidenreich, Juha Koivisto, Max Langendorf, Klaus Meschkat, Klaus Müller Sissy Müller, Vesa Oittinen, Michael Rahlwes, Victor Rego Diaz, Thomas Sablowski Rainer Schultz, Jürgen Stahl, Achim Trebeß, Thilo Witt Editionsassistenz Thomas Weber, Christian Wille Gesamtleitung Oliver Walkenhorst Fremdsprachige Äquivalenzen Huda Zein (Arabisch), Joseph Fracchia und Jan Rehmann (Englisch), Étienne Balibar (Französisch), LutzDieter Behrendt (Russisch), Pedro Ribas Ribas und Santiago Vollmer (Spanisch), Zhou Sicheng (Chinesisch) Übersetzungen Florian Busch, Frigga Haug, Peter Jehle, Christof Ohm, Nora Räthzel, Thomas Sablowski, Christian Scholz Christina Schönfuß, Ines Schwerdtner, Oliver Walkenhorst, Linus Westheuser, Christian Wille Korrekturen Julian Appel, Fabian Bremer, Florian Busch, Johannes Funcke, Ruedi Graf, Michael Hauke Franz Heilgendorff, Peter Jehle, Anja Käßner, Heinz-Jürgen Krug, André Kutschki, Max Langendorf Jan Loheit, Sissy Müller, Thomas Pappritz, Philipp Piechura, Ingo Pohn-Lauggas, Michael Rahlwes Ines Schwerdtner, Kolja Swingle, Hansjörg Tuguntke, Thilo Witt Namensregister Matthias Bösinger unter Mitarbeit von Fabian Bremer, Florian Busch, Johannes Funcke Thomas Pappritz, Hansjörg Tuguntke, Thilo Witt Internetpräsenz Frank Eckgold, Marc Hanisch, Wolfgang Fritz Haug, Santiago Vollmer (Spanisch), Christian Wille Download-Service Frank Eckgold, Marc Hanisch, Margret Langenberger www.inkrit.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-88619-440-7 (Band 8/I) ISBN 978-3-88619-441-4 (Band 8/II) Alle Rechte vorbehalten © InkriT 2015; für diese Ausgabe Argument-Verlag Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg, www.argument.de Satz: Martin Grundmann, Hamburg. – Druck: freiburger graphische betriebe Abbildung auf dem Schutzumschlag: Pablo Picasso, Foulard für 3. Weltjugendfestival © Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

1153

1154

links /rechts

wurde dadurch letztlich legitimiert, und bei Reformkonzepten wurden grundlegende Herrschaftsbedingungen und systemische Ursachen von Fehlentwicklungen ausgeklammert. Zugleich untermauerten andere die L/R-Unterscheidung (vgl. Bobbio 1994; Müller 1995; Breuer 1999, 13f; Noël/Thérien 2008, 6-31).

A: yasārī/yamīnī. – E: left/right. F: gauche/droite. – R: levyj/pravyj. S: izquierda/derecha. – C: zuǒ/yòu 左 / 右

Als Engels 1842 den Literaturhistoriker Alexander Jung ironisch »auf der äußersten Linken« verortet (1/433), im Januar 1848 in Paris »die Linken (die Partei des Herrn Odilon Barrot)« mit dem »Linkszentrum« und den »vernünftigen Radikalen« eine »vereinigte Opposition« bilden sieht (4/433) und sich im Februar 1848 über »die Poltrons [Feiglinge] der Linken« erregt (4/528), verwendet er den Ausdruck »links« zur Beschreibung parlamentarischer Auseinandersetzungen. Klassenmäßig präziser geht es zu, als er rückblickend die Position der französischen Arbeiterklasse nach der Niederschlagung des Juni-Aufstands 1848 auf die eines »äußersten linken Flügels der radikalen Bourgeoisie« beschränkt sieht (1888, 21/352). »Links« wird in der Folge zu einer Identifikation stiftenden Abgrenzung der marxistischen Arbeiterbewegung und anderer politischer Kräfte gegenüber der auf Privilegien und Ungleichheit gründenden »Rechten«. Doch tauchte der Gegensatz von l/r bald innerhalb der »Linken« selbst auf. So galt die von Stalin Ende der 1920er Jahre verfolgte Industrialisierungs- und Kollektivierungspolitik als »links«, der auf Abstand gehende Bucharin als »rechts«. Was l/r jeweils konkret bedeutet, steht so wenig fest wie die nach Gestaltung verlangende Wirklichkeit. Die Unterscheidung ist aufnahmefähig für unterschiedliche und sogar gegensätzliche Positionen – und doch nützlich, um im Handgemenge Flagge zu zeigen. Sie wird in der Alltagssprache verwendet, um Positionen, Einstellungen, Grundorientierungen, sogar Lebensentwürfe zu charakterisieren und politische Auseinandersetzungen zu bewerten. In der bürgerlichen Wissenschaft entscheidet sich l/r am Verhältnis zur Gleichheit (vgl. Laponce 1981; Kühnl 1990, 17ff). Als nach dem Kollaps des Staatssozialismus vom »Ende der Geschichte« (Fukuyama 1992) die Rede war, wurde die Brauchbarkeit der Unterscheidung überhaupt hinterfragt. Die grün-alternativen Bewegungen etwa wollten sich nicht (mehr) entlang der dualen Logik von egalitär/elitär, Fortschritt/Bewahrung usw. einordnen lassen (Spretnak 1985), und »marktsozialdemokratische« Parteien (Nachtwey 2009) wähnten sich »jenseits von links und rechts« und glaubten, den Begriff der Gleichheit durch den von Inklusion/Exklusion ersetzen zu können (Giddens 1994). Die auf der strukturellen Ungleichverteilung des Privateigentums an den Produktionsmitteln beruhende kapitalistische Produktionsweise © INKRIT 2015

links /rechts

1. Die Redeweise l/r kommt in der Französischen Revolution zur Welt. Wie Christus ›zur Rechten Gottes‹ sitzt und regiert, so bestanden die Monarchisten darauf, zur Rechten des Königs zu sitzen. Links mussten die Gegner des Königs Platz nehmen. In der Nationalversammlung, in der sich die bürgerlich-liberalen Gegner und konstitutionalistischen Kritiker der Monarchie auf der linken Parlamentsseite wiederfanden, die Royalisten auf der rechten, setzte sich diese Sitzordnung fort (vgl. Lenk 1994, 11). L/r bezog sich v.a. auf die Staatsfrage: Abschaffung der Monarchie oder konstitutionelle Einschränkung derselben? Was mit der Unterscheidung von Konservatismus und (klassischem) Liberalismus weitgehend identisch war, änderte sich, nachdem letzterer mit dem politischen Sieg der Bourgeoisie und dem Aufstieg der Arbeiterbewegung seinerseits eine konservative Wende vollzogen hatte. In den USA ist die frühkapitalistische Identität von »liberals« (Linke) und »conservatives« (Rechte) bis heute erhalten geblieben, weil die »Sozialisten« dort als »progressives« oder »radicals« allenfalls peripherer Teil des politischen Spektrums sind. Links meint also zunächst Liberalismus und Aufklärung als Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins des aufsteigenden Bürgertums (vgl. Horkheimer 1930, GS 2, 205f). Dieses nutzt die Naturrechts- und Immanenzphilosophie gegen die über das Gottesgnadentum legitimierte politische Herrschaft des Feudaladels: Wenn die Menschen – d.h. die Männer – von Natur aus gleich und mit unveräußerlichen Rechten geboren sind, dann können sie legitimerweise das Recht auf politische Gleichheit und Selbstbestimmung für sich reklamieren. Die Forderung nach einem gesetzgebenden Parlament als institutionellem Ausdruck der Gewaltenteilung macht Gleichheit zur wichtigsten Maxime des Bürgertums. Die Unterscheidung der (monarchischen) »Willkürherrschaft« von der (liberalen) »Herrschaft des Gesetzes« (Neumann 1936) zielt dabei mit der im Zuge der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung aufkommenden Parole »No taxation without representation« auf die Kontrolle über die Steuergesetzgebung. Die Monarchie und ihre ungeteilte Gewalt bilden hiergegen das entscheidende Hindernis. Das politische Spektrum unterteilt sich von rechts bis links gemäß den Herrschaftsformen der absoluten Monarchie, konstitutionellen Monarchie und Republik.

HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 8/I I

links /rechts

1155

Die aus dem Naturrecht abgeleitete Forderung nach Gleichheit bzw. Gleichstellung im politischen Raum lässt sich auf alle anderen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens (z.B. Arbeitsplatz, Einkommen, Vermögen), d.h. die sozialen Grundlagen der Demokratie, ausdehnen. Daher das Bestreben der Rechten, diese »Selbstorganisierung der Gesellschaft« (Schmitt 1931/1988, 172) als Verwandlung des von Gott hergeleiteten Staates in einen »Mechanismus« (vgl. Schmitt 1936/37; Strauss 1936/1963, 122) zu bekämpfen. Im England des 17. Jh. gehört zum linken Potenzial der politisch ausgeschlossenen »kindlichen Menge« (Losurdo 2008, 69) die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung: die Eigentumslosen (u.a. Kleinpächter, Landarbeiter, Lohnabhängige in Manufakturen), die Frauen und insgesamt die Bevölkerung der britischen Kolonien. Der »besitzindividualistische« Liberalismus (Macpherson 1962) schloss mit dem männlichen städtischen Bürgertum, dessen Ideologie er war, nur einen Bruchteil der Bevölkerung in seine linken Gleichheitsgedanken ein. Diese Janusköpfigkeit des Liberalismus, der nach 1848 »in der politischen Praxis« dauerhaft mit dem (ehedem feudal-antikapitalistischen) Konservatismus zu einer bürgerlichen Gesamtideologie mit zwei Flügeln – dem ›linken‹ »Konservativliberalismus« und dem ›rechten‹ »Liberalkonservatismus« – amalgamiert (Kofler 1984, 14), wird bloßgelegt, indem sich die Kämpfe für mehr Un/ Gleichheit entlang der Unterscheidung l/r gemäß der sozialen Frage im Kapitalismus anordnen. 2. Im deutschen Sprachraum wurde l/r analog zum Ausdruck »soziale Frage« aus dem Französischen übernommen und verbreitete sich in den 1840er Jahren. In der 1848 in der Frankfurter Paulskirche sich konstituierenden Nationalversammlung besetzten die republikanischen Antimonarchisten die linken und die konstitutionellen Monarchisten die rechten Parlamentssitze. L/r sind auch hier politische Kampfbegriffe im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus. 2.1 Auch Marx und Engels treffen die Unterscheidung zunächst nicht in Bezug auf Proletariat und Bourgeoisie, auch nicht in Bezug auf die »kommunistische Partei« (verstanden als gesellschaftlichpolitische Strömung), sondern in Bezug auf das Parlament. Sie zielen darauf ab, in der sich zum ersten Mal politisch unabhängig artikulierenden Gesellschaftsklasse »Proletariat« über die Aufgaben der Klassenformierung für eine zukünftige Revolution aufzuklären. Das ist Teil des »enormen theoretischen Fortschritts, der im marxschen Verständnis von Klassen und ihrem Verhältnis zum politischen Kampf« durch das Scheitern von 1848 »bewirkt« wurde (Hall 1977/1989, 15).

1156 Immer wieder kritisieren Marx und Engels die Abkopplung der »einmal durch das Fegefeuer der Wahl passierten und keinem Menschen weiter verantwortlichen« Abgeordneten (NRhZ, 5/341) von der revolutionären Bewegung und die damit sichtbar werdenden Grenzen der bürgerlichen Demokratie (vgl. 358 u. 408f). Erscheint dabei noch eine gewisse identifikatorische Nähe zu einer »entschiednen Linken« in ihrer Abstraktion, stellt Engels zugleich klar, man habe »nie nach der Ehre gegeizt, ein Organ irgendeiner parlamentarischen Linken zu sein«, und betont so den grundsätzlichen Abstand auch zu »den vielfachen verschiedenen Elementen, aus denen sich die demokratische Partei in Deutschland gebildet hat« (347). Dagegen zeigen die Vertreter der Konterrevolution im Parlament »kaltblütige Gewissheit des Erfolgs, fußend auf der Feigheit der Majorität«, und gründliche »Verachtung der ganzen Versammlung, rechts wie links« (346). Mit der Ausdifferenzierung des sozialistischen Projekts aus der bürgerlich-demokratischen Opposition zum Feudalismus verliert die L/R-Unterscheidung für Marx und Engels an Bedeutung. Sie beschreibt nun noch enger das Abstimmungsverhalten im bürgerlich-liberal und feudal-konservativ besetzten Parlament (vgl. 1848, 6/85-100, 261-66 u. 372-80; 1850, 7/409-13; 1852, 8/254-60 u. 292-98; 1860, 14/594) oder den Unterschied im Lager der herrschenden Klassen. In K I etwa bezeichnet Marx in den Auseinandersetzungen über den Korn-Schutzzoll 1844/45 als »links« den politischen Flügel der (Industrie-) Bourgeoisie und als »rechts« den der Grundbesitzerklasse (23/704). 2.2 Mit der Ersten Internationale (1864-72) und dem Aufstieg der sozialistischen Arbeiter- als Massenparteien ab der zweiten Hälfte der 1870er Jahre, der mit ihrem Einzug in die Parlamente einhergeht, stellt sich die Frage nach einer sozialistischen Parlamentspolitik in und gegen den Staat und beginnt sich auch der Sprachgebrauch bei Marx und Engels zu verändern. Zudem stellt sich im Kontext der Großen Depression von 1873 bis 1896 zum ersten Mal die Frage der Zwischenklassen, namentlich des kleinen (Land-)Eigentums und der entstehenden Intellektuellenklasse. Die L/R-Unterscheidung bleibt zwar weiterhin auf die Parlamentspolitik beschränkt, aber die Haltung ist nun weniger distanziert. Mit der Politisierung des Kleinbürgertums, seiner Ablösung von den bürgerlichen Parteien und dem drohenden Verlust seiner früheren revolutionären Orientierung im Kontext des Aufstiegs präfaschistischer – nationalistischer, antisemitischer, militaristischer und (sozial-)imperialistischer – Bewegungen aus den Mittelklassen (vgl. Puhle 1972; Eley 1991/1996, 97-208) gewinnt l/r substanzielle Bedeutung für die politi-

HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 8/I I

© INKRIT 2015

1157

1158

schen Kräfteverhältnisse, und die kommunistische Bewegung erscheint als Teil einer »extremen Linken«. Engels beobachtet in Frankreich 1883 eine Konfrontation zwischen Radikalen und Monarchisten, die das republikanisch orientierte Kleinbürgertum »ein wenig mehr nach der extremen Linken« tendieren lässt, was es »sonst niemals getan hätte« (21/226). Die eigene Partei – »wir Kommunisten« (ebd.) – bleibt aber von dieser »Linken« unterschieden. Mit dem politischen Aufstieg der Arbeiterbewegung, d.h. der erzwungenen Öffnung des bürgerlichen Parlaments für die demokratisch-sozialistischen Kräfte und damit als politische Bühne für den Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit, änderte sich allmählich auch das strategische Verhältnis zum bürgerlichen Staat. Einerseits blieb die Vorstellung einer proletarischen Revolution nach dem Muster der radikalen Volksbewegungen in den Revolutionen seit 1789 weiterhin bestimmend. Noch August Bebel hatte 1871 das Vorbild der Pariser Kommune im Reichstag zur Nachahmung empfohlen. Andererseits reflektierte Engels in seinem ›Testament‹ die veränderte Bedingung für revolutionäre Kämpfe: »Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet.« (1895, 22/519) Davon unberührt blieb die grundsätzliche Position, dass sozialistische und internationalistische Klassenparteien in den Parlamenten des bürgerlichen Staates diesen nicht als beliebig verwendbares, neutrales Werkzeug einfach umformen können, wie die Reformisten den parlamentarischen Kampf missverstanden.

Agrarfrage, an der u.a. Georg von Vollmar beteiligt ist und die direkt in die von Eduard Bernstein 1899 eingeleitete »Revisionismusdebatte« führt (vgl. Lehmann 1970, 164-74). Dieser Prozess einer »negativen Integration« ist charakteristisch für den »revolutionären Attentismus« der Zweiten Internationale (Groh 1973). Seither bezeichnen sich die marxistischen »Traditionalisten« oder »Orthodoxen«, die sich gegen die parlamentarisch-reformistische Demobilisierung wenden, zunehmend als »Linke«. Der linke Flügel sieht sich zu diesem Schritt gezwungen, um das revolutionäre Erbe von Marx und Engels zu bewahren. Die Selbstbezeichnung »Linke« bündelt die Opposition gegen den »Opportunismus« als Positionsbestimmung innerhalb des sozialistischen Lagers. »Links« und »sozialistisch« bzw. »proletarisch-revolutionär« werden dabei nicht synonym verwendet. Die den Begriff »links« für sich reklamierenden Kräfte sind nicht »links«, weil sie »sozialistisch«, »kommunistisch« oder »proletarischrevolutionär« sind, sondern weil Teile ihrer Partei nach »rechts« rücken im Sinne einer Abkehr von der revolutionären marxschen Perspektive. Die »Kommunisten«, so Antonio Labriola in einer frühen Problematisierung sozialistischer Parlamentspolitik von 1895, begreifen sich als »äußerste Linke jeder proletarischen Bewegung« (GkM, 109). Während »rechts« als Selbstbezeichnung der »gradualistischen«, d.h. den revolutionären Bruch vermeidenden Sozialisten wie Bernstein selten verwendet wird, findet er sich als Kampfbegriff v.a. bei Vertretern des »linken« Flügels wie Rosa Luxemburg, die die desaströse Regierungsbeteiligung der französischen Sozialisten bekämpft (1901, GW 1/2, 5-73). Dies hängt mit der grundsätzlich weiterhin von allen Sozialdemokraten geteilten Orientierung auf das Endziel Sozialismus/Kommunismus zusammen, das sich im Revisionismusstreit ausdifferenziert: Während die Vertreter des revolutionären Marxismus um Luxemburg den Sozialismus weiterhin sozialökonomisch als eine gegenüber dem Kapitalismus höhere Ordnung im Interesse der arbeitenden Klassen definieren, entsteht mit Bernstein eine Traditionslinie, die ihn zunehmend ethisch und damit klassenübergreifend als erstrebenswert zu begründen trachtet und dabei auf die idealistische (Moral-)Philosophie Kants (Neokantianismus) anstatt auf das dialektische Denken von Hegel und Marx zurückgreift. Solange aber die sozialistische (Kern-)Bewegung grundsätzlich als »proletarisch« klassenbasiert definiert wird, ist diese L/R-Relation, die sich auf die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Flügeln der Arbeiterbewegung beschränkt, und damit auch die Selbstbezeichnung »links« in Bezug auf das Verhältnis der Sozialdemokratie insgesamt zur Bourgeoisie

3. Mit dem Aufkommen des Reformismus setzt sich in einem Teil der nationalstaatlich formierten sozialistischen Parteien schon in den 1880er und 90er Jahren, verstärkt nach Engels’ Tod, die Selbstbezeichnung »Linke« durch. Damit wandert l/r in die Binnenverhältnisse im proletarischen Lager selbst ein. Nach außen werden die politischen Kämpfe aber weiterhin primär als Auseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie und den alten und neuen Zwischenklassen verstanden. Den Hintergrund bilden zwei miteinander verschränkte Entwicklungen: der politische Siegeszug der Arbeiterbewegung und die zunehmende Spaltung der Arbeiterbewegung entlang der Linien Reform/ Revolution und Imperialismus/Internationalismus. Diese Spaltung zeichnet sich in Deutschland 1890 mit den Auseinandersetzungen zwischen Engels und der (kleinbürgerlich-intellektuellen) »Jungen Opposition« um den späteren Rechtssozialdemokraten Eduard David und den späteren rechtskonservativen Schriftsteller Paul Ernst ab (vgl. Fülberth 1972, 84-105). Sie vertieft sich mit der Debatte um die © INKRIT 2015

links /rechts

HISTORISCH-KRITISCHES WÖRTERBUCH DES MARXISMUS 8/I I

links /rechts

1159

oder den Zwischenklassen weiterhin irrelevant. Dies änderte sich erst, als Regierungsbündnisse sozialdemokratischer Parteien möglich und später sogar als normale Erscheinung der parlamentarischen Demokratie betrachtet wurden. Mit der Entwicklung der Gewerkschaften, der Massenstreik-Debatte und der Herausbildung der leninschen Parteitheorie mit der scharfen Kritik an der »Anbetung der Spontaneität«, des »Ökonomismus« (1902, LW 5, 389) und am »ausschließlich trade-unionistischen Kampf« (391) vertiefen sich nach der Jahrhundertwende die Spaltungslinien. Je mehr die Einheit des »proletarisch-revolutionären« Lagers Risse bekommt, desto mehr wird die Bekämpfung des »opportunistischen« Flügels mithilfe der L/R-Unterscheidung betrieben. Nur in Ausnahmefällen wird diese auf eine umfassendere Analyse von gesellschaftlich-politischen Kräfteverhältnissen jenseits des Parlaments bezogen. So schreibt L...


Similar Free PDFs