Etienne François, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bde I–III PDF

Title Etienne François, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bde I–III
Author Nina Leonhard
Pages 5
File Size 95.6 KB
File Type PDF
Total Downloads 147
Total Views 308

Summary

Einzelbesprechungen 535 Bereich der Geschlechterforschung. Seine an- tionspunkte kollektiver Erinnerung und Identi- schauliche Art, dem Leser selbst komplizierte tät“ zu verstehen, „die in gesellschaftliche, kul- Analysemethoden verständlich zu machen, turelle und politische Üblichkeiten eingebun- m...


Description

Einzelbesprechungen Bereich der Geschlechterforschung. Seine anschauliche Art, dem Leser selbst komplizierte Analysemethoden verständlich zu machen, macht es ferner nicht nur für das Fachpublikum, sondern auch für eine breite Leserschaft attraktiv. Bedauerlich ist lediglich, dass die Autoren unter politischer Partizipation sowohl „konventionelle“ (z.B. Wahlverhalten, Mitgliedschaft in einer politischen Organisation) als auch „unkonventionelle“ politische Partizipationsformen (z.B. Protestverhalten) subsumieren. Dadurch bleibt ein wichtiges Ergebnis im weiteren Verlauf unberücksichtigt: nämlich, dass Geschlechterunterschiede in unkonventioneller Partizipation im Gegensatz zu konventioneller Partizipation gar nicht vorhanden sind. Es wäre sicherlich wertvoll zu untersuchen, aus welchem Grund dies der Fall ist und welche Implikationen das für die politische Beteiligung von Männern und Frauen hat. Das ist insbesondere von Relevanz, da konventionelle und unkonventionelle Beteiligungsformen von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst werden. Nichtsdestoweniger demonstriert das Buch nachhaltig, wie wichtig es ist, bereits im privaten Bereich anzusetzen, um Männern und Frauen auf gleiche Weise die Partizipation im politischen Bereich zu ermöglichen – auch wenn dieser Schluss von den Autoren nicht explizit gezogen wurde.

Etienne François, Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bde I-III. München: C.H. Beck 2001, Bd. I 725 S., Bd. II 741 S., Bd. III 784 S., je € 34,90. Nina Leonhard Seit Ende letzten Jahres liegt das Projekt „Deutsche Erinnerungsorte“ abgeschlossen vor. Es hat sich zum Ziel gesetzt, und allein das ist bemerkenswert, in Form von knapp 120 Essays in drei Bänden ein „erstes, breitgefächertes und offenes Inventar der deutschen Gedächtniskulturen anzubieten“ (I 24), das über den „typischen Stil“ der Beziehung der Deutschen zur Vergangenheit Auskunft geben soll (I 16). Erinnerungsorte sind laut Definition der beiden Herausgeber Etienne François und Hagen Schulze als „Generationen überdauernde Kristallisa-

535

tionspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ zu verstehen, „die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung“ (I 18) wandelt. Ein Erinnerungsort beschreibt demnach keine abgeschlossene Realität, sondern erhält seine Bedeutung erst durch den sich immer neu formierenden realen, sozialen, politischen, kulturellen oder imaginären Raum, in dem er steht. Die „Deutschen Erinnerungsorte“ sind aus der Auseinandersetzung mit der von Pierre Nora herausgegebenen Sammlung französischer „Lieux de mémoire“ (7 Bände, Paris, 1984– 1992) hervorgegangen. Ursprünglich als Bestandsaufnahme der materiellen und immateriellen Orte geplant, auf denen die kollektive Erinnerung Frankreichs gründet, zielten die „Lieux de mémoire“ schließlich darauf ab, einen anderen Umgang mit der Geschichte Frankreichs zu entwickeln und so ein neues, gestärktes französisches Nationalgefühl zu erreichen. Einen solchen Ansatz auf Deutschland übertragen zu wollen, muss, und das sprechen die Herausgeber in ihrer Einleitung auch an, zunächst problematisch erscheinen. Denn im Gegensatz zu Frankreich versteht sich das Verhältnis zur eigenen Nation und Geschichte in Deutschland gerade nicht von selbst. François und Schulze verweisen jedoch auf die Zunahme von Gedenkveranstaltungen, von historischen Ausstellungen und Museen in Deutschland seit den achtziger Jahren, die zeige, dass auch hier, vor dem Hintergrund der fortschreitenden europäischen Integration und der deutschen Wiedervereinigung, ein neues Interesse für die deutsche Geschichte entstanden und die Frage nach der deutschen Identität aktualisiert worden sei. Dieses Interesse aufzugreifen und vor dem Hintergrund einer neuen deutschen Selbstverortung als Grundlage einer historischen Fragestellung nutzbar zu machen, erscheint somit sinnvoll, wenn nicht sogar geboten – zumal die Geschichtswissenschaft auf diese Weise die Möglichkeit bekommt, ein Terrain zurückzuerobern, das hierzulande – anders als etwa in Frankreich – bislang in weiten Teilen den Kulturwissenschaften überlassen worden war (z.B. A. Assmann: Erinnerungsräume. München 1999; A. Assmann, D. Harth (Hg.): Mnemosyne. Frankfurt a.M. 1991; J. Ass-

536

PVS-Literatur

mann: Das kulturelle Gedächtnis. München 1992; J. Assmann, T. Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988). Der Aufruf der Herausgeber an ihre Historikerkollegen, sich den neuen Herausforderungen zu stellen und ihrem Anspruch, „eine Art von legitimer Deutungshoheit über das Zeitgeschehen zu besitzen“ (I 12), gerecht zu werden, ist nicht zuletzt in diesem Zusammenhang zu sehen. Trotz der Anlehnung an die „Lieux de mémoire“ galt es aber, das französische Konzept den hiesigen Besonderheiten anzupassen. Anders als für Frankreich wurde der zeitliche Schwerpunkt für Deutschland auf das 19. und 20. Jahrhundert gelegt, und anstelle einer Gliederung in drei Blöcke (République, Nation, Les France) ordnete man beim deutschen Pendant die Beiträge 18 Oberbegriffen zu – eine Lösung, die „nicht nur den Brüchen und Verwerfungen der deutschen Gedächtniskulturen gerecht“ werde, „sondern auch der spezifischen Logik des Gedächtnisses“ Rechnung trage. Dem entspreche auch der Wunsch der Herausgeber, „kein abgeschlossenes Bild zu liefern“ (I 20). Eine thematische Charakterisierung der drei Bände, deren Einheit sich erst in ihrer Gesamtheit erschließen soll, fällt daher schwer. Annäherungsweise ließe sich sagen, dass in Band I unter den Überschriften „Reich“, „Dichter und Denker“, „Volk“, „Erbfeind“, „Zerrissenheit“ und „Schuld“ die Geschichte des deutschen Nationalstaats und in Band II mit „Revolution“, „Freiheit“, „Disziplin“, „Leistung“, „Recht“ sowie „Die Moderne“ die Kultur- und Rechtsgeschichte Deutschlands im Vordergrund stehen. Band III wiederum widmet sich mit „Bildung“, „Gemüt“, „Glaube und Bekenntnis“, „Heimat“, „Romantik“ und „Identitäten“ eher den deutschen Mentalitäten. Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass die Zuordnung der einzelnen Aufsätze zu den genannten Oberbegriffen nicht immer zwingend erscheint. Damit sind weniger die thematischen Überschneidungen einzelner Artikel gemeint, die, folgt man den Herausgebern, sogar beabsichtigt sind und in der Tat eher ergänzenden denn redundanten Charakter haben. Manche Beiträge scheinen inhaltlich aber überhaupt nicht zur jeweiligen Überschrift zu passen – etwa „Die Junker“ zur Zerrissenheit (I) oder „Königin Luise“ zur Disziplin (II) –, während man andere – wie „Heinrich Heine“ (I) und „Schiller“ (II) – mehreren Kategorien gleichzei-

tig zuordnen könnte. So drängt sich schließlich der Eindruck auf, man habe erst im Nachhinein versucht, die verschiedenen Beiträge nach Begriffen zu strukturieren, die, so die Herausgeber, deswegen „typisch deutsch“ seien, da sie sich nur schwer in eine andere Sprache übersetzen lassen (I 20). Für „Dichter und Denker“, „Bildung“ und „Gemüt“ leuchtet das ohne Zweifel ein, wohl aber kaum für „Freiheit“, „Revolution“ oder „Identitäten“. Die Autoren sind mehrheitlich Historiker, aber auch Publizisten und Vertreter anderer Disziplinen (z.B. Germanisten, Ethnologen, Soziologen sowie einige Politikwissenschaftler) aus Deutschland und anderen Ländern. Die europäische Ausrichtung des Projektes, auf welche das deutsch-französische Herausgeberduo großen Wert legt und die beim französischen Vorbild nicht zu finden ist, wird auch bei der Themenauswahl deutlich: Ausgewählt wurden Erinnerungsorte, die nicht nur für Deutschland allein von Bedeutung sind, wie etwa „Charlemagne/Karl der Große“ (I), „Versailles“ (I) oder „Das Straßburger Münster“ (III) in Frankreich, „Tannenberg/Grunwald“ (I) in Polen, „Stalingrad“ (II) in Russland oder „Wien, Heldenplatz“ (I) in Österreich. Was eröffnet nun die Lektüre der weit über 2000 Seiten? Zunächst einmal Einsichten in das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen, in den Bedeutungswandel der jeweiligen Erinnerungsorte und in die Konjunkturen der politischen Instrumentalisierung bestimmter Teile der Vergangenheit. Dies an sich ist nicht neu – neu sind jedoch viele der Beispiele, an denen das Auf und Ab des Vergangenheitsbezugs veranschaulicht wird. Schließlich hat man darauf Wert gelegt, keine Erinnerungsorte aufzugreifen, die in Monografien oder Sammlungen bereits umfassend behandelt wurden. Neu ist auch die Berücksichtigung vermeintlich trivialer Erinnerungsorte insbesondere im dritten Band wie „Der Volkswagen“ (I), „Die Bundesliga“ (II), „Karl May“ (III), „Der Struwwelpeter“ (III) oder „Der Schrebergarten“ (III). Den in der Einleitung erhobene Anspruch, die Geschichte der einzelnen Erinnerungsorte „in den breiteren Rahmen der deutschen Erinnerungsgeschichte einzubetten“ (I 17) lösen die Autoren insgesamt immerhin so häufig ein, dass man über den behandelten Erinnerungsort hinaus Einblicke in weitere räumliche und zeitliche Bezüge bekommt. Zu den in dieser Hin-

Einzelbesprechungen sicht besonders gelungenen Beiträgen zählen die Artikel „Weimar“ (I), „Wien, Heldenplatz“ (I), „Das Brandenburger Tor“ (II), „Ruhe und Ordnung“ (II) oder „Dresden“ (III). Die Lektüre der drei Bände veranschaulicht ferner sehr überzeugend den Zusammenhang von aufkommendem Nationalbewusstsein und der Forderung nach nationaler Einheit, die Bedeutung deutscher Kultur- und Traditionsbestände als Vorläufer, Kompensation und Begleiterscheinung der nationalstaatlichen Einigung sowie für den Übergang von Nationalismus zu Nationalsozialismus. Die herausragende Bedeutung des Nationalsozialismus für das Verhältnis der Deutschen zur Vergangenheit tritt deutlich hervor: Es gibt kaum einen Autor, der die Zeit des Nationalsozialismus nicht in irgendeiner Weise thematisiert. Eine Reihe von Beiträgen – z.B. „Der Führerbunker“ (I), „Auschwitz“ (I), „Der Kniefall“ (I), „Die Mitläufer“ (I), „Der 20. Juli“ (II), „Furchtbare Juristen“ (II) – behandelt zudem einzelne Aspekte dieses Teils der Vergangenheit. Kritisch könnte man hier höchstens anmerken, dass der Gesamteindruck der NS-Zeit als erinnerungspolitische und erinnerungsgeschichtliche Zäsur etwas diffus bleibt. Vielleicht hätte ein systematischer Zugang zu diesem zentralen Thema deutscher Erinnerung ein konkreteres Bild zeichnen können. Im Vergleich zum 19. und zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bleibt die Zeit nach 1945, vor allem nach 1989/90 dagegen blass. Die DDR-Rezeption der verschiedenen Erinnerungsorte kommt – besonders im ersten Band – zu kurz, auch wenn die DDR als Vergangenheit selbst durch einige Aufsätze – „Die Mauer“ (I), „Die Stasi“ (II), „Der Palast der Republik“ (II), „Die Jugendweihe“ (III) – vertreten ist und die Wiedervereinigung durch den Beitrag „Wir sind das Volk“ (II) eigens thematisiert wird. Zu den vergleichbaren, in erste Linie der Geschichte der (alten) Bundesrepublik gewidmeten Artikel zählen „Achtundsechzig“ (das Prager 1968 wird hier nicht berücksichtigt), „Die D-Mark“, „Karlsruhe“ und „Wyhl“ (alle aus Band II). In den meisten anderen Aufsätze ist zudem auch die bundesrepublikanische Rezeption der jeweiligen Erinnerungsorte – zumindest kurz – ein Thema. Mit der gegenwärtigen Bedeutung des von ihnen untersuchten Erinnerungsortes im wiedervereinigten

537

Deutschland beschäftigen sich aber nur sehr wenige Autoren. Der mitunter fehlende Gegenwartsbezug, der sich hier zeigt, verweist auf das Problem der Auswahl der Erinnerungsorte: Eine nicht unerhebliche Zahl der behandelten Erinnerungsorte bezieht sich auf „Orte“ der deutschen Vergangenheit, die heute außerhalb der Geschichtswissenschaften kaum noch Relevanz besitzen und eher zur „abgeschlossenen“ Geschichte gehören. Als Beispiele seien „Canossa“ (I), „Die Türken vor Wien“ (I), „Die Völkerschlacht“ (II), „Langemarck“ (III), „Arminius“ (III) oder der der Arbeiterbildung gewidmete Artikel „Wissen ist Macht“ (III) genannt. Andere Erinnerungsorte wie „Der Reichstag“ (I), „Auschwitz“ (I) „Weihnachten“ (III) oder „Oberammergau“ (III) sind indes immer noch mit lebendigen Erinnerungen verbunden. Hier kann sich das Projekt offensichtlich nicht eindeutig zwischen den beiden Polen (vergangene) „Geschichte“ und (aktuelle) „Erinnerung“ entscheiden. Mit Blick auf den Anspruch, Vergangenheitsbezüge zu präsentieren, auf die sich die gegenwärtige Identität der Deutschen stützt, erweist sich dies letztlich als problematisch. Teils liegt das am schwer zu fassenden Gegenstand selbst – was gehört genau zur deutschen Geschichte, was zur deutschen Identität? –, teils auch an der bildungsbürgerlichen Ausrichtung der Herausgeber, zu der sie sich offen bekennen (I 22). Trotzdem kann und muss man fragen, ob das angekündigte offene und wertfreie „Inventar“ deutscher Erinnerungsorte letztlich nicht doch der Vorstellung eines normativ gefassten „Erinnerungskanons“ entspringt, auf dem die Identität der Deutschen beruhen sollte. Unklarheiten zeigen sich auch bei der Bestimmung dessen, was ein deutscher Erinnerungsort ist: So versteht ein Teil der Autoren darunter einen Ort, ein Ereignis oder eine Person, die in der deutschen Geschichte eine wichtige Rolle gespielt haben. Für manche verweist ein deutscher Erinnerungsort darauf, was in Deutschland oder im Ausland als deutsch angesehen wird. Andere wiederum sehen einen (deutschen) Erinnerungsort dadurch gekennzeichnet, dass dort staatliche und sozio-kulturell verankerte Erinnerungen zusammentreffen. Entsprechend verschieden sind auch die Ausrichtung und Schwerpunktsetzung der Beiträ-

538

PVS-Literatur

ge: Häufig beschränken sich die Autoren auf die Darstellung der Rezeptionsgeschichte des jeweiligen Erinnerungsortes. Leider viel zu selten werden dabei die Entstehungsbedingungen behandelt, die für ein tiefgreifendes Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Funktion des entsprechenden Erinnerungsortes und seiner Entwicklung unabdingbar sind, wie die Artikel über die „Dolchstoß-Legende“ (I), den „Bamberger Reiter“ (I), die „Freiheitsglocke“ (II) oder „Neuschwanstein“ (III) eindrucksvoll belegen. Einige Autoren konzentrieren sich auf die Art der Inszenierung des jeweiligen Erinnerungsortes und auf seine spezifische geschichtspolitische Instrumentalisierung. Für andere steht dagegen die Gegenüberstellung von historischer Realität und nachträglicher Deutung im Mittelpunkt. Die Heterogenität der Aufsätze, der der fragmentarische Charakter deutscher Vergangenheits- und Identitätskonstruktionen entspricht, stellt die Idee der „Deutschen Erinnerungsorte“ nicht in Frage. Sie bestätigt vielmehr die Fruchtbarkeit des Ansatzes der Herausgeber und ihren Versuch, das Konzept der „Lieux de mémoire“ auf den deutschen Fall zu übertragen. Allerdings hätte man die verschiedenen Dimensionen, die das Konzept des Erinnerungsortes für Deutschland umfasst, nicht nur stärker in der Einleitung thematisieren, sondern auch bei der Gliederung berücksichtigen können. Möglicherweise wäre auf diese Weise vermieden worden, dass eine kleine Minderheit der Autoren die Erinnerungs- und somit Deutungsdimension, die ja gerade im Zentrum des Projektes steht, in ihren Beiträgen nicht behandelt. So werden manchmal die Bedeutungsgeschichte eines Wortes – „Pflicht“ (II) – oder die Lebens- bzw. Werkgeschichte einer Person – „Theodor Fontane“ (I), „Die Manns“ (I), „Die Brüder Humboldt“ (III), „Albert Einstein“ (III), „Caspar David Friedrich“ (III) – ohne Bezug zur symbolischen Bedeutung des jeweiligen Erinnerungsortes und ihres Wandels im Verlauf der Zeit referiert. Ebenso bleibt die Darstellung mancher historischer Ereignisse bei der realhistorischen Beschreibung stehen, was sich zwar mitunter sehr spannend liest, jedoch nichts über den Status des jeweiligen Gegenstandes als Erinnerungsort aussagt, wie dies bei den Beiträgen „Der Führerbunker“ (I), „Stalingrad“ (II), „Die Hanse“ (II), „Das ,goldene‘ Handwerk“ (II), „Das BGB“ (II),

„Hausmusik“ (III) oder „Gesangsverein“ (III) der Fall ist. Nicht nur hier, hier aber in ganz besonderer Weise treten die durch die „Deutschen Erinnerungsorte“ aufgeworfenen Fragen hervor: Wenn Erinnerungsorte Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität sind, wer eigentlich sind die Träger der Erinnerung und um wessen Identität(en) geht es? Ist ein für eine gesellschaftliche Gruppe in Deutschland relevanter Erinnerungsort bereits ein deutscher Erinnerungsort? Spiegeln die Diskussionen der politischen und intellektuellen Eliten allgemein deutsche Befindlichkeiten wider? Und schließlich, was auch in politikwissenschaftlich ausgerichteten Studien zur Geschichtspolitik in der Regel unberücksichtigt bleibt: Wie verhalten sich individuelle Erinnerungen und öffentliche Vergangenheitsdeutungen zueinander? Die „Deutschen Erinnerungsorte“ sind für ein breites Publikum historisch interessierter Leser geschrieben – und überwiegend gut geschrieben –, denen man anstelle allzu theoretischer und abstrakter Erörterungen des Phänomens kollektiver Erinnerung ein „Geschichtsund Geschichtenbuch“ anbieten möchte, wie es auf dem Einband von Band I heißt. Dass man dabei wahlweise von „Gedächtniskulturen“, „kulturellem Gedächtnis“, „kollektiver Erinnerung“ und eben von „Erinnerungsorten“ spricht, entspricht der Zeit und passt auch zum Thema, denn schließlich geht es um Vergangenheit und wie diese in Deutschland erinnert, instrumentalisiert und vergessen wurde. In der Tat ist der Versuch, die deutsche Geschichte auf eine neue Art zu thematisieren, indem man den Brüchen und Diskontinuitäten gegenüber der Einheitlichkeit den Vorzug gibt, insgesamt als gelungen zu bezeichnen. Gelungen ist auch die – typisch deutsche (?) – Europäisierung des Blicks auf die deutsche Vergangenheit, die eine interne Selbstbeschau ebenso verhindert wie eine nationale Selbstüberhöhung. Problematisch ist allerdings zum Teil die Erinnerungsterminologie, die von einer Reihe von Autoren missverstanden bzw. missverständlich benutzt wird. Für die politikwissenschaftliche Diskussion werfen die vielfältigen Beiträge der „Deutschen Erinnerungsorte“ insbesondere die auch demokratietheoretisch relevante Frage nach dem Verhältnis von Politik, Identität, Geschichte und Kultur auf. Unbestreitbar ist ferner, dass man bei der Lektüre viel über Deutschland und

Einzelbesprechungen seine Geschichte sowie über Geschichtspolitik in Deutschland erfährt. Die Frage, was das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit ausmacht, wird man in Zukunft nicht zuletzt mit Blick auf dieses Projekt beantworten. Wenigstens in Teilen wird so der geschichtsbewahrende, identitätsstiftende Wunsch der Herausgeber aufgehen.

Heinz-Gerhard Haupt, Dieter Langewiesche (Hg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte. Frankfurt a.M.: Campus 2001, 655 S., € 51,–. Siegfried Weichlein Die Nationalismusforschung boomt – die Literatur zu Religion im 19. und 20. Jahrhundert auch. Dennoch dämmert erst langsam die Einsicht, dass die Nation selbst religiös gedeutet wurde und dass Religionen einen nachhaltigen Einfluss auf das Verständnis von Nation besaßen. Die These vom großen Bruch zwischen Tradition und Modernität konnte in Religion und Konfession nur eiszeitliche Gletscher sehen, die sich bis in das 19. Jahrhundert hineinschoben, um dort unter der strahlenden Sonne des bürgerlichen Wertehimmels langsam und stetig abzuschmelzen (Richard van Dülmen). Doch seit den kommunistischen Funktionären das Lachen über die Marienverehrung und die schwarze Madonna von Tschenstochau vergangen ist, breitet sich auch in der Historiographie allmählich die Einsicht aus, dass es mit der Säkularisierung im 19. und 20. Jahrhundert nicht so weit her gewesen sein könnte. Historiker wie David Blackbourn und Margaret Anderson haben die Zweifel am ,big divide‘ zwischen Tradition und Moderne verstärkt. Die Religion nahm im 19. Jahrhundert einen sehr viel höheren Stellenwert ein als gemeinhin angenommen. Dass dies auch für die religiöse Imprägnierung der Nation galt, ist die durchgängige These des Bandes von Dieter Langewiesche (Tübingen) und Heinz-Gerhard Haupt (Bielefeld), der die Beiträge einer Tagung in der Reimers-Stiftung von 1999 versammelt. Chronologisch geordnet untersuchen die Autoren das Verhältnis von Religion und Nation von der frühen Neuzeit bis 1933. Der

539
<...


Similar Free PDFs