Fall 12 gestörte Gesamtschuld PDF

Title Fall 12 gestörte Gesamtschuld
Course Bereicherungsrecht
Institution Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Summary

Fälle aus dem Bereicherungsrecht. Die Unterlagen stammen aus dem Examensrepetitorium WS 2020/2021.
Viel Erfolg beim Lernen :-) !...


Description

Wintersemester 2020/2021 Repetitorium SchuldR III (Bereicherungsrecht)

Lösungsskizze Fall 12 A. A ! M, § 426 I BGB A könnte gegen M einen Ausgleichsanspruch gem. § 426 I BGB haben. I.

Gesamtschuldnerschaft

A und M müssten gegenüber S Gesamtschuldner sein. Hier könnte die Gesamtschuld gesetzlich entstanden sein, vgl. § 840 I BGB. Dafür müssten A und M für den Schaden des S aus unerlaubter Handlung nebeneinander verantwortlich sein. 1. Haftung des A Laut Sachverhalt haftet A für die Schäden des S gem. § 7 I StVG und somit aus unerlaubter Handlung.1 2. Haftung der M Fraglich ist, ob M dem S aus unerlaubter Handlung haftet. In Betracht kommt eine Haftung aus § 823 I BGB.2 a) Rechtsgutverletzung Ein Rechtsgut des S müsste verletzt worden sein. S erleidet schwere Verletzungen und erleidet sowohl eine Gesundheitsschädigung als auch eine Körperverletzung. b) Verletzungshandlung M müsste gehandelt haben. M macht eine leichte Vorwärtsbewegung und hat somit gehandelt. c) Haftungsbegründende Kausalität Zwischen Verletzungshandlung und Rechtsgutverletzung müsste ein Kausalzusammenhang bestehen. Hätte M sich nicht leicht vorwärts bewegt, wäre S nicht über die Straße gerannt. d.) Rechtswidrigkeit

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vgl zur Anwendung von § 840 I BGB auf die Gefährdungshaftung: Wagner, in: MüKo BGB, 6. Aufl., § 840, Rn. 5. 2

Hinweis: Ein Anspruch aus § 1664 BGB direkt wäre auch denkbar, denn § 1664 BGB ist eigene AGL des Kindes gegen die Eltern. Das OLG Bamberg prüft allerdings „nur“ § 823 I BGB.

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Der Tatbestand indiziert die Rechtswidrigkeit. Rechtfertigungsgründe sind nicht ersichtlich. e.) Verschulden Fraglich ist, ob M schuldhaft gehandelt hat. Gem. § 823 Abs. 1 BGB hat sie Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Vorsatz scheidet aus. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, vgl. § 276 II BGB. Fraglich ist, ob M dadurch fahrlässig gehandelt hat, indem sie ihren Sohn nicht an die Hand genommen hatte. Allerdings war S immer ein selbstständiger und sicherer Radfahrer, der sich bis zum Unfall noch nie unzuverlässig im Straßenverkehr verhalten hat. M handelte auch nicht dadurch fahrlässig, dass ihr Sohn keinen Fahrradhelm trug, denn eine Helmpflicht für Radfahrer besteht nicht und außerdem wollten M und S ihre Räder über die Straße schieben, so dass sie in diesem Zeitpunkt als Fußgänger anzusehen waren. Ein leicht fahrlässiges Handeln iSv § 276 BGB der M kann allenfalls darin gesehen werden, dass sie in der irrigen Annahme, die Straße sei frei, eine leichte Vorwärtsbewegung gemacht hat und ihr Sohn daraufhin über die Straße gerannt ist. Fraglich ist jedoch, ob der Haftungsmaßstab des § 276 BGB hier überhaupt anwendbar ist, oder ob das Verschulden nicht am Maßstab der §§ 1664 I, 277 BGB zu messen ist. aa.) Haftungsprivilegierung des § 1664 I BGB §§ 1664 I, 277 BGB mildert die Haftung der Eltern auf die eigenübliche Sorgfalt (diligentia quam in suis), so dass dadurch die Haftung wegen einfacher/leichter Fahrlässigkeit ausgeschlossen ist. 3 (1) Anwendungsbereich Fraglich ist jedoch, ob der Haftungsmaßstab der §§ 1664 I, 277 BGB auch dann Anwendung findet, wenn es nicht nur um die Verletzung rein familienrechtlich begründeter Sorgfaltspflichten geht, sondern zugleich auch um die Verletzung allgemeiner deliktischer Verhaltenspflichten. Insbesondere bei der Teilnahme am Straßenverkehr ist dies umstritten. 4 Eine Ansicht lehnt die Einwirkung des § 1664 auf das Deliktsrecht ab, weil § 1664 wegen seiner problematischen Ratio restriktiv auszulegen sei. Die – inzwischen wohl überwiegende – Gegenansicht wendet die Haftungsmilderung des § 1664 auf Deliktsansprüche jedenfalls dann an, wenn – wie meistens – ein innerer Zusammenhang des deliktischen Verhaltens mit der elterlichen Sorge gegeben ist. Insbeson3

Kemper, in: Schulze BGB Kommentar, 8. Aufl., § 1664, Rn. 2.

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vgl. folgend: Huber, in: MüKo BGB, 6. Aufl., § 1664, Rn. 8-9.

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dere auch dann, wenn die Eltern ihr Kind im Straßenverkehr nicht durch ein verkehrswidriges Verhalten als Kraftfahrer schädigen. 5 Dieser Ansicht ist zu folgen. Für sie sprechen Wortlaut und Systematik der Vorschrift: § 1664 ist als allgemeine Haftungsbeschränkung formuliert und nicht ausdrücklich auf die Haftung aus der Sonderbeziehung der elterlichen Sorge beschränkt. Derartige Haftungserleichterungen sind idR auf umfassende Wirkung angelegt. Die Regelung des § 1664 würde weitgehend leer laufen, wenn sie nicht auch auf (mit der elterlichen Sorge in innerem Zusammenhang stehende) unerlaubte Handlungen Anwendung fände. Auch ist diese Ansicht mit der hier vertretenen Erklärung der Ratio des § 1664 vereinbar: Denn der innerfamiliäre Friede würde durch den Streit über deliktische Ansprüche in gleicher Weise gestört wie durch den Streit über Ansprüche, die sich auf § 1664 als Anspruchsgrundlage stützen. M war mit ihrem Sohn S als Fußgängerin unterwegs. Ihr haftungsrechtlich gegenüber dem Kind allein in Betracht kommendes Tun – die leichte Vorwärtsbewegung – verstößt nicht gegen Verkehrsvorschriften. In diesem konkreten Fall stehen ihre deliktsrechtlichen Pflichten in der Sorge für die Person des Kindes in untrennbarem Zusammenhang mit der elterlichen Sorge. 6 Der Haftungsmaßstab der §§ 1664 I, 277 BGB ist somit in diesem Fall anwendbar. (2) Verschulden der M gem. §§ 1664 I, 277 BGB Im Rahmen des § 1664 haften die Eltern nur für eigenübliche Sorgfalt; die Anforderungen sind also individuell zu bestimmen, sog. culpa in concreto. Schranken dieser individuellen Vorwerfbarkeit sind gem. § 277 grobe Fahrlässigkeit und Vorsatz, wofür es auf objektive Kriterien ankommt. 7 Grob fahrlässig handelt derjenige, der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach dem gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und unbeachtet lässt. 8 Die leich te Vorwärtsbewegung der M infolge der irrtümlichen Annahme, die Straße sei frei, stellt – wie oben schon erläutert – nur ein leicht fahrlässiges Handeln dar. 9 Anders als bei der leichten Fahrlässigkeit ist für die eigenübliche Sorgfalt ein subjektiver Maßstab maßgeblich. Abzustellen ist auf das gewöhnliche individuelle Verhalten und die Eigenheiten der betroffenen Person (daher auch die Bezeichnung „konkrete Fahrlässig5

vgl. OLG Bamberg, vom 14.2.2012 - Az. 5 U 149/11, Rn. 24.

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OLG Bamberg, vom 14.2.2012 - Az. 5 U 149/11, Rn. 25.

7 vgl.

Huber, in: MüKo BGB, 8. Aufl., § 1664, Rn. 3.

8 BGH 9 vgl.

NJW 2007, 2988.

auch OLG Bamberg, vom 14.2.2012 - Az. U149/11, Rn. 29ff.

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keit“). Durch diesen Maßstab soll die Haftung aber nur beschränkt, nicht erweitert werden. Wer üblicherweise größere Sorgfalt und Umsicht als im Verkehr erforderlich walten lässt, haftet daher nicht etwa aufgrund der Vorschriften über die eigenübliche Sorgfalt über den Maßstab des § 276 hinaus. 10 Die Tatsache, dass M auch in eigenen Angelegenheiten nicht sorgfältiger verfährt, ergibt sich bereits daraus, dass sie in der konkreten Verkehrssituation selbst mit einer leichten Vorwärtsbewegung zum Überqueren der Straße angesetzt hat. M ist somit gem. §§ 1664 I, 277 BGB kein Verschulden vorzuwerfen. bb.) Zwischenergebnis M hat – aufgrund der Haftungsprivilegierung der §§ 1664 I, 277 BGB - nicht schuldhaft gehandelt. M haftet dem S nicht aus § 823 I BGB. A und M wären somit keine Gesamtschuldner iSv § 840 BGB. A hätte somit gegen M keinen Anspruch auf Ausgleich gem. § 426 I BGB. 3. Lösung über die gestörte Gesamtschuld? Da M aufgrund der Haftungsprivilegierung nicht haftet, ist fraglich, ob nicht eine Lösung über die Regeln der gestörten Gesamtschuld zu finden ist. Das Gesamtschuldverhältnis ist gestört, wenn die Entstehung eines Gesamtschuldverhältnisses dadurch verhindert wird, dass einer der Schädiger wegen eines Haftungsausschlusses oder einer Haftungsbeschränkung von der Haftung befreit ist und sich deshalb einem Ausgleichsanspruch des zahlenden Zweitschädigers widersetzt. 11 Wie dieser Konflikt zu lösen ist, ist umstritten. alle Lösungswege sind so für die vertraglichen Haftungsprivilegierungen entstanden a) Lösung 1: Ein möglicher Ansatz ist, zu Lasten des nicht privilegierten Schädigers dessen volle Außenhaftung zu bejahen, ihm jedoch keine Möglichkeit eines Innenregresses zu geben, denn ein Gesamtschuldverhältnis liegt nicht vor, so dass § 426 I BGB nicht anwendbar ist. A hätte demnach den vollen Schaden zu tragen. Hiergegen wird angeführt, dass sich die Haftungsprivilegierung zwischen S und M voll zu Lasten des A auswirke. Dies komme einem Vertrag zu Lasten Dritter gleich, den das Zivilrecht aber nicht kennt. 12Diese An -

10 Schulze, 11

in: Schulze BGB Kommentar, 8. Aufl., § 277, Rn. 3.

Joussen, SchuldR I-AT, 2008, Rn. 1434ff.

12 BGH

NJW 1972, 942.

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sicht (Lösung 1) wird heutzutage nicht mehr vertreten, man versucht auf der Grundlage von Wertungsgesichtspunkten einen anderen Weg zu gehen. 13 b) Lösung 2: BGH14 Nach dieser Lösung wirkt sich die Haftungserleichterung lediglich auf das Außenverhältnis aus (zwischen S und M); im Innenverhältnis hingegen stehen dem A Ausgleichsansprüche gem. § 426 BGB zu.15 Da jedoch eigentlich kein Gesamtschuldverhältnis besteht, wird eines fingiert, um dem Zweitschädiger den Rückgriff zu ermöglichen. Diese Lösung geht somit zu Lasten des privilegierten Erstschädigers (hier M), der nun doch noch trotz seiner Haftungsfreistellung haften soll. Nachteil dieser Lösung ist es, dass zum einen mit einer Fiktion gearbeitet werden muss. Darüber hinaus wird die Haftungsprivilegierung der M in dieser Situation deutlich entwertet, denn sie muss ja nun doch haften. Kompensation ließe sich dann wiederum nur im Wege eines Rückgriffes des privilegierten Erstschädigers gegenüber dem Geschädigten erzielen. c) Lösung 3: überwiegende Lehre 16 Aufgrund der oben genannten Mängel der Lösung des BGH geht diese Ansicht davon aus, dass S von vorneherein von A nicht den vollen Schadensanteil verlangen kann, sondern nur einen gekürzten Anteil. Der Anspruch des Gläubigers müsse gegen den nicht privilegierten Schädiger von vorneherein in Höhe des Verantwortungsanteils des privilegierten Schädigers gekürzt werden. Somit wäre M vollständig von der Haftung befreit, A müsste aber nur einen gekürzten Anteil Schadensersatz an S leisten. Nachteil dieser Lösung ist, dass sie keinerlei gesetzliche Stütze findet, denn sie ist eine reine Wertungsentscheidung, die danach schaut, auf wessen Kosten der Konflikt aufzulösen ist. Sowohl Lösung 2, als auch Lösung 3 können vertreten werden. d) Streitentscheid Die Fälle der gesetzlichen Privilegierung sind zwar mit denen der vertraglichen Privilegierung vergleichbar, jedoch muss man bei den gesetzlichen Privilegierungen durch Auslegung der zur Privilegierung führenden Vorschrift herausfinden, welche Lösung vor-

13 früher:

OLG Düsseldorf NJW 1972, 113.

14 vgl.

BGHZ 12, 213; 58, 216 (220).

15 vgl.

Grüneberg, in: Palandt, 73.Aufl., § 426, Rn. 18.

16 vgl.

Joussen, SchuldR I-AT, 2008, Rn. 1440.

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zugswürdig ist. Hier ist nämlich die hinter der gesetzlichen Privilegierung stehende Sonderwertung mit zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung wendet in den Fällen des § 1664 I BGB die Lösung nach dem Wortlaut an mit der Folge, dass der Geschädigte – das Kind – den nicht privilegierten Schädiger in vollem Umfang in Anspruch nehmen kann, ohne dass letzterer im Innenverhältnis den privilegierten Schädiger nach § 426 I BGB in Regress nehmen könnte. 17 Begründet wird dieser Lösungsweg damit, es entstehe schon keine Gesamtschuld i. S. d. § 840 Abs. 1 BGB, die gestört werden könne. Hierfür sei erforderlich, dass ein Schaden zurechenbar (mit)gesetzt werde. Dies werde aber gerade durch die Regelung der §§ 1664 Abs. 1, 277 BGB verhindert: Unterhalb der Schwelle des § 277 fehle es an der Zurechenbarkeit des Schadens, der privilegierte Elternteil werde schon kein Gesamtschuldner; dies entspreche der Situation, wenn es etwa aufgrund der Deliktsunfähigkeit eines Mitschädigers an der Zurechenbarkeit eines Schadens fehle. Ebenfalls soll die gesetzgeberische Wertung des § 1664 BGB nicht unterlaufen werden: „Ziel des § 1664 I BGB ist somit auch der Schutz der Familie im Außenverhältnis. Auf diesem Weg gewinnt der in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich nicht unproblematische § 1664 I BGB eine weitere Dimension, die die Norm insgesamt in neuem Licht erscheinen läßt: Sie entlastet die Eltern nicht nur von den Ansprüchen des Kindes, sondern auch von dem Rückgriff des Zweitschädigers.“ 18 Somit wird in diesem Fall weder eine Fiktion der Gesamtschuld noch eine Minderung des Anspruchs des S gegen A bejaht. Es bleibt bei der fehlenden Verantwortlichkeit der M und deren fehlender Schuldnerstellung und somit bei der vollen Haftung des A, ohne dass dieser sich im Innenverhältnis an M halten kann. 4. Ergebnis A und M sind keine Gesamtschuldner. A hat somit gegen M keinen Ausgleichsanspruch gem. § 426 I BGB. B. A ! M, § 426 II BGB Mangels Gesamtschuld besteht auch kein Anspruch A gegen M gem. § 426 II BGB.

17 BGH

NJW 1988, 2667, 2669; vgl. ausführlich dazu: Mollenhauer, in: NJ 2011, 1ff.

18 Hager,

in: NJW 1989, 1640 (1647).

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