7 Vl Drama - Mitschriften PDF

Title 7 Vl Drama - Mitschriften
Author Jürgen Knierim
Course Einführung in die Literaturwissenschaft
Institution Universität Kassel
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Mitschriften...


Description

7 + 8 Vl Drama -

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Übersetzt bedeutet der altgriechische Begriff ‚drama‘ soviel wie ‚Handlung‘ und bezeichnet ein sich überwiegend aus Dialogen zusammensetzendes Bühnengeschehen. Das Drama als literarische Gattung entsteht im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Athen. Bedeutende griechische Dramatiker sind Aischylos, Sophokles und Euripides.

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Bis ins 19. Jahrhundert gilt die Tragödie als ‚Königsdisziplin‘ sämtlicher künstlerischer Ausdrucksformen. Selbst bedeutende Erzähler wie Theodor Fontane versuchen sich zunächst als Dramatiker und verwinden nur unter Schwierigkeiten ihr Scheitern an der sog. Leitkunst.

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In Folge dieser Hochschätzung des Dramas setzt sich in Regelpoetiken und Literaturtheorien der nächsten Jahrtausende eine einseitige Perspektive auf den Bühnentext durch. Analog dazu wird das Theater mit all seinen performativen Möglichkeiten bloß als ‚Dienerin der Dichtung‘ verstanden. Erst mit den 1980er Jahren setzt sich eine komplementäre Betrachtung von Dramentext und Bühnenereignis (Inszenierung) durch. Seither gilt:

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Jedes Drama ist als Theatergeschehen zu betrachten, das sich aus dem dramatischen Text und der jeweiligen Inszenierung zusammensetzt. Erst der Illusionismus der Bühne, also die ‚dramatische‘ Realisierung des für eine Aufführung konzipierten Textes, verleiht dem einzelnen Drama wirkungsästhetische Unmittelbarkeit. Mit der Inszenierung verändert sich auch die Rezeptionssituation dramatischer Texte. 4 So werden aus Lesern Zuschauer, die auch körperlichemotional am Bühnengeschehen teilhaben (können). Ferner kann die ästhetische Bearbeitung eines ‚Klassikers‘ mit Hilfe choreographischer oder musikalischer Einlagen, mittels Orts- und Zeitänderungen, Textstreichungen uvm. dazu anregen, sich aus einer ästhetisch neuen Perspektive mit der dramatischen Textvorlage auseinanderzusetzen. 5 Stellvertretend für die ältere Beschäftigung mit Tragödie und Komödie sei G. Gründgens zitiert, der 1953 forderte, ein „Werk“ sei so zu „interpretieren, wie es vom Dichter gemeint ist.“ Hinter solchen Mutmaßungen verbirgt sich einerseits der Glaube, ein dramatischer Text habe ein zeitloses Wesen, dem sich die Inszenierung zu unterwerfen habe. Andererseits unterschätzt Gründgens die Tatsache, dass der dramatische Text erst durch die Aufführung seine ästhetische Bedeutung

erlangt – eine Tatsache, der sich alle Dramatiker durchaus bewusst sind. So gibt es zwar kein Theater ohne dramatischen Text. Aber dieser steht immer schon unter den Bedingungen des Theaters. Als Kunstwerk vollendet er sich allein durch die Inszenierung. 6 Mit Aristoteles‘ Poetik (Peri poietikés) liegt seit 335 v. Chr. eine erste systematische Beschreibung dramatischer Kunst vor, die bis weit ins 20. Jhd. hinein die ästhetische Diskussion über das Drama beeinflusst hat. Historisch leitet Aristoteles das Drama aus dem Dithyrambus und dem Satyrhaften ab. 7 Dithyramben sind kultische Chorund Reigenlieder, die zunächst Taten und Leiden des Gottes Dionysos Dithyrambos in ekstatischer Weise besungen haben. 8 Dionysos ist in der griechischen Mythologie der Gott des Weines, der Freude und der Fruchtbarkeit. Er trägt den Beinamen des Rufers (Bacchus) bzw. des Sorgenbrechers. In späteren Dithyramben rücken auch andere griechische Götter und Heroen in den Mittelpunkt. Bedeutende antike Dithyrambendichter sind Simonides, Pindar und Bakchylides. 9 Unter dem Satyrhaften werden die chorischdramatischen Darbietungen der Satyrn, der bocksfüßigen Begleiter des Rauschgottes Dionysos, verstanden. 10 Satyrspiele sind Vorläufer der Komödie und wurden in der Antike zum Abschluss dreier

nacheinander aufgeführter Tragödien auf der Bühne inszeniert. 11 Da das antike Drama noch stark chorisch geprägt ist, treten die Schauspieler mit ihren Monologen oder Dialogen noch in Nebenhandlungen auf. Mit Rücksicht auf diese Bühnenpraxis unterscheidet Aristoteles folgende Dramenelemente, die das Handlungsgefüge strukturieren: 12 • Prolog: Einleitung, Informationen zum Inhalt • Parodos: Einzugslied des Chores • Epeisodien: Dialogpartien der Schauspieler • Stasimon: Chorlied • Exodus: Abgesang des Chores 13 Beispiel für eine Parodos aus der Antigone (um 422 v. Chr.) des Sophokles 14 Beispiel für ein Stasimon ist das Lied des Seikilos, überliefert auf einer Grabstele im kleinasiatischen Tralles in antiker Notenform 15 Zu den zentralen Begriffen der antiken Dramenlehre gehören die Nachahmung und die Katharsis. Um deren produktions- und wirkungsästhetische Dimension herausarbeiten zu können, unterscheidet Aristoteles zwischen primären und sekundären Gattungsmerkmalen des Dramas. Um diese Unterscheidung besser nachvollziehen zu können, ist zu berücksichtigen, dass Aristoteles: 16 a) das Bühnenhandeln in Zeit und Raum als wichtigstes Merkmal einführt, um das Drama von Malerei oder Skulptur unterscheiden zu können b) betrachtet er das Nachahmen menschlichen Handelns als vernunftgesteuerte künstlerische Leistung, die den Zuschauer zwar auch emotional anspricht – aber eben nur, weil Zuschauer primär Vernunftwesen sind, die sich bewusst für oder gegen bestimmte Emotionen, wie sie bsp. einzelne Bühnenakteure beherrschen, entscheiden. 17 Im Drama wird dieses Handeln durch handelnde und sprechende Figuren nachgeahmt. Ihr Agieren auf der Bühne entscheidet auch über die moralische Wirkung des Dramas auf das Publikum.

Zu den primären und sekundären Merkmalen eines Dramas gehören: 18 • Mythos: Handlung o. Plot, der wahrscheinlich (‚realistisch‘) sein muss • Ethe: Emotionale Disposition der Figuren • Dianoia: intellektueller Horizont des Bühnenpersonals • Lexis: sprachliche Gestaltung eines Stückes • Opsis: optische Gestaltung der Szenen • Melopoiía: Gesang und Musik 19 Mythos, ethe, lexis und dianoia gehören nach Aristoteles zur Poesie und grenzen das Drama von Epik und Lyrik ab. Das visuell-szenische Element, die Opsis, erregt seinen Worten nach die Zuschauer zwar psychisch, gehört aber nicht zur Kunst. Gleiches gilt für die musikalische Ausgestaltung (Melopoiía) eines Dramas. Aus beiden Überlegungen folgert der Philosoph (und darin folgen ihm Dramentheoretiker bis ins 20. Jhd.), die Wirkung einer Tragödie käme auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande. 20 Bei der Wahl bestimmter Stoffe, Themen und Motive orientieren sich die Dramendichter an einer überzeugenden, bewegenden Handlung (grch.: Mythos). Nach Aristoteles muss es dabei Ziel des Autors sein, bei den Zuschauern „Jammer (eleos) und Schauder (phobos)“ hervorzurufen. Unter Katharsis versteht der Philosoph „eine Reinigung“ von „derartigen Erregungszuständen“, dh. das Drama soll das Publikum von negativen Affekten (Angst, Aggression) befreien. 21 Unter Handlung versteht Aristoteles nicht allein die Einzelhandlung einer Bühnenfigur, sondern: - ein aus verschiedenen Teilhandlungen komponiertes Handlungsgefüge - die Äußerung von Affekten, Leidenschaften, Gefühlen - das Eingreifen metaphysischer Schicksalsmächte und Naturgewalten. 22 Die das Drama beherrschende Handlungsform ist die gesprochene Sprache (lexis). Mit ihr charakterisieren sich die einzelnen dramatis personae, werden innere Vorgänge thematisiert, Handlungen kommentiert und nicht auf der Bühne präsente Ereignisse benannt. Im Kern ist

das Drama folglich ein Sprechdrama. 23 Zu den traditionellen Regeln des Dramas gehören: - Einhaltung der Ständeklausel - Einheit von Ort, Zeit und Handlung - Vermeidung zu vieler Nebenhandlungen 24 Beispiel für ein noch chorisch geprägtes Theater der Antike: Die Perser von Aischylos (472 v. Chr.) in der Inszenierung des Münchener Ensembles Opera Incognita (2010): 25 26 Historisch stellt der dreiaktige Aufbau die Grundform des europäischen Theaters dar. Unter einem Akt wird eine räumlich und inhaltlich strukturierte Gliederungseinheit des Dramas verstanden. Der ältere Begriff ‚Aufzug‘ erinnert noch an den Kulissenwechsel zwischen den Akten, zwischen denen der Bühnenvorhang geöffnet bzw. geschlossen wird. Seit der Renaissance hat sich der fünfaktige Aufbau als vorbildhaft durchgesetzt. 27 Auf dieser formalästhetischen Vorgabe basieren weitere Bauformen des Dramas, die für dessen Analyse zentral sind: 1) erfüllt jeder Akt eine drameninterne und handlungsbestimmende Aufgabe; 2) darüber hinaus setzen sich alle Akte wieder aus Szenen oder Auftritten zusammen. Und 3) kann der Autor auf verschiedene Formen der Figurenrede bzw. 4) Möglichkeiten der Spannungserzeugung zurückgreifen. 28 Zu 1) Schematischer Aufbau eines fünfaktigen Dramas: 1. Akt: Exposition 2. Akt: Steigerung 3. Akt: Höhepunkt 4. Akt: Umschlag / Peripetie 5. Akt: Katastrophe / Lösung 29 Exposition: findet sich idealtypisch am Dramenanfang, vermittelt Wissen über Voraussetzungen des Bühnengeschehens, informiert über Personen und Personenkonstellationen. Der Begriff ist insofern problematisch, als er sich auf offene Dramen (Stationendrama) nicht anwenden lässt; darüber hinaus gibt es Dramen (Shakespeare: The Tempest), in denen

Hintergründe des dramatischen Konflikts sukzessive herausgearbeitet werden. Treten zudem neue Figuren auf, müssen diese ebenfalls mit ‚expositorischen‘ Mitteln eingeführt werden. 30 Steigerung: Ingangsetzen der dramatischen Handlung. Protagonist und Antagonist bauen im Sinne eines spannungserzeugenden Moments den dramatischen Konflikt auf. 31 Höhepunkt: der dramatische Konflikt wird im Prinzip entschieden; die Handlung nimmt ihre entscheidende Wendung. Retardierendes Moment / Peripetie: in der Tragödie bieten sich verschiedene Auswege an, um den dramatischen Konflikt beizulegen. Antike Dramen enden bsp. mit einem Schuldspruch der Götter, die den Protagonisten zuvor zu einem bedenklichen Verhalten herausgefordert haben. In der Komödie kommt es zu neuerlichen Verwicklungen. 32 Katastrophe: das tragische Ende, traditionell der Tod des Protagonisten, der den Konflikt nicht zu lösen vermag. In der Komödie werden alle Verwicklungen aufgelöst und abschließend dem Verlachen preisgegeben. 33 Zu 2) Jeder Akt eines Dramas gliedert sich in Szenen oder Auftritte: • Szene: gliedert das Geschehen in zwei Schauplatzwechsel (griech: scena = Schauplatz) • Auftritt: gliedert das Geschehen in zwei Personenwechsel 34 Beispiel für einen Auftritt: FRANZISKA: Wir wollen uns gleich auch putzen und sodann essen. Wir behielten Sie gerne zum Essen, aber Ihre Gegenwart möchte uns am Essen hindern; und sehen Sie, so gar verliebt sind wir nicht, dass uns nicht hungerte. TELLHEIM: Ich geh! Franziska, bereite sie indes ein wenig vor, damit ich weder in ihren noch in meinen Augen verächtlich werden darf. – Komm, Werner, du sollst mit mir essen. WERNER: An der Wirtstafel hier im Hause? Da wird mir kein Bissen schmecken! TELLHEIM: Bei mir auf der Stube. WERNER: So folge ich Ihnen gleich. Nur noch ein Wort mit dem Frauenzimmerchen. TELLHEIM: Das gefällt mir nicht übel. (Geht ab.) 11. AUFTRITT

FRANZISKA: Nun, Herr Wachtmeister? – WERNER: Frauenzimmerchen, wenn ich wiederkomme, soll ich auch geputzt kommen? FRANZISKA: Komm er wie er will, Herr Wachtmeister, meine Augen werden nichts wider ihn haben. ... Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm 35 Beispiel für eine Szene: FRANZ: ... Der milzsüchtige, podagrische Moralist von einem Gewissen mag runzligte Weiber aus Bordellen jagen, und alte Wucherer auf dem Todesbett foltern – bei mir wird er nimmermehr Audienz bekommen! (Er geht ab.) 3. SZENE Anderes Zimmer im Schloß Räuber Moor von der einen Seite, Daniel von der anderen. MOOR (hastig): Wo ist das Fräulein? DANIEL: Gnädiger Herr! Erlaubt einem armen Mann, Euch um etwas zu bitten. Friedrich Schiller: Die Räuber 36 Zu 3) Figurenrede (Dialog, Monolog): Sprache ist im Drama mehrfach codiert. Einerseits dient sie dem Austausch zwischen den Akteuren, andererseits liefert sie dem Zuschauer wichtige Informationen über den Sprecher (Charakter) und andere Beteiligte (z. B. ihnen zugeschriebene Attribute), über die gesprochen wird. Ferner unterrichtet Figurenrede über die Handlung, äußere Umstände, soziale Verhältnisse, aber auch den Äußerungsstil in einer konkreten Redesituation (gehässig, rücksichtsvoll etc.). 37 Sonderformen der Figurenrede sind die Teichoskopie (Mauerschau) und der Botenbericht. Bei der Mauerschau steht eine Figur erhöht und schildert Vorgänge, die aus bühnentechnischen Gründen nicht dargestellt werden können (z. B. eine Schlacht). Insofern erlaubt es die Teichoskopie, gleichzeitig ablaufendes Geschehen in die Handlung mit einzubeziehen. Mit Hilfe des Botenberichts werden vergangene Ereignisse, aber auch schreckliche oder anstößige Begebenheiten (Hinrichtung, Liebesakt) indirekt in die Handlung integriert. 38 39 Beispiel für einen Botenbericht: In Schillers Die Jungfrau von Orleans (1801) überbringt Ritter Raoul die Nachricht vom Sieg der Engländer über die zu-nehmend mutloseren Franzosen: 40 41 Zu 4) Handlungsübergreifende Mittel der Spannungserzeugung:

Vorausdeutungen in Form von Orakeln, Wahrsagungen, Ahnungen oder Träumen. Handlungsinterne Mittel der Spannungserzeugung: Intrigen, Verheimlichungen oder Täuschungen. Unter Anagnorisis wird das Wiedererkennen zweier Personen oder das Erinnern an Orte, Gegenstände verstanden. Beide lösen einen Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis aus. 42 Berühmtes Beispiel für eine Vorausdeutung auf das dramatisch Folgende ist die Hexenszene aus Shakespeares Macbeth (um 1606): 43 44 Nebentexte: hierzu gehören Titel, Personenverzeichnisse, Akt- und Szenenabschnitte, indirekte Regieanweisungen (‚Nimm diesen Brief‘) sowie konkrete Bühnenanweisungen zu Beginn eines Akts oder einer Szene. 45 Ein Uberblick uber die europaisch-deutsche Theatergeschichte, um die es im Weiteren gehen soll, kommt eigentlich nicht ohne Rekurse auf die Geschichte der Theaterarchitektur und Buhnentechnik aus. Denn wahrend man in der Antike einer Auffuhrungen noch in grosen Stadien folgt, setzt sich die sog. Guckkastenbuhne genau zu jener Zeit durch, als sich das Theater zur ‚moralischen Anstalt‘ entwickelt und jede Form von Ablenkung vermieden werden soll. 1 Theater von Epidaurus 2 Guckkastenbuhne Gotha (1777) 3 Auch die Erfindung von Drehbuhnen, Beleuchtungsmoglichkeiten oder Schnurboden (Zwischendecke zum Anheben der Buhnenbilder) hat grosen Einfluss auf Inzenierungspraxis und –moglichkeiten. Daruber hinaus andern sich im Verlauf der Jahrhunderte auch die Erwartungen, die Regisseure und Zuschauer an eine Auffuhrung, an den Darstellungsstil der Schauspieler, ihre Kostume usw. stellen. Nicht zuletzt wandelt sich da Publikum selbst: Wendet sich das Drama bis ins 18. Jhd. vorwiegend an Adlige, so gehort der Theaterbesuch seither eher zum Selbstverstandnis bildungsburgerlicher Kreise.

4 Ohne all diese Einflussgrosen eingehender vorstellen zu konnen, sei im Folgenden der Schwerpunkt auf einige Stationen der Dramengeschichte gelegt. 5 Das neuzeitliche Drama hat zwei Formtypen hervorgebracht: das geschlossene Drama und das offene Drama. Das geschlossene Drama zeichnet sich durch ein eher uberschaubares Figurenensemble aus, das (abgesehen von Nebenpersonal wie Dienern, Boten usw.) dem hoheren Stand angehort. Die Handlung ist meist einstrangig-schlussig, wobei die Einheit von Ort, Zeit und Handlung gewahrt bleibt. 6 Historisch lassen sich zahlreiche geschlossene Dramenformen unterscheiden, darunter das: • - geistliche Spiel des Mittelalters • - Passions- und Mysterienspiel • - Schaferspiel des 16. Jhds. • - Humanistendrama • - elisabethanische Drama • - Ideen- und Historiendrama des 18. Jhds. • - Burgerliche Trauerspiel • - soziale Drama des Naturalismus 7 • Das offene Drama bringt Figuren aus unterschiedlichen Gesellschaftskreisen auf die Buhne, die von ihrer Umwelt bestimmt sind. Als Ausdruck einer nicht mehr intakten, gestorten Welt ist die Handlung meist bruchstuckhaft und nicht unbedingt kausal strukturiert. Fur die Figurenrede wird auf Alltagssprache und Dialekte zuruckgegriffen. Eine Losung des dramatischen Konflikts wird nicht immer angestrebt. 8 Wegweisend fur das offene Drama hierzulande ist Georg Buchners Woyzeck (1836): 9 10 Eine europaisch einflussreiche Sonderform des Theatralen ist die seit dem 16. Jhd. beliebte Commedia dell‘arte. Da sie weniger ‚didaktisch‘ angelegt ist und stattdessen das Performative des Buhnengeschehens in den Vordergrund ruckt, eroffnet sie den Zuschauern eine metareflexive Perspektive auf das Dargestellte. Von dieser

Thematisierung des Theaters im Theater gehen wichtige Impulse auf die Komodien und auch Tragodien der Folgezeit aus. 11 Bei dieser ital. Stegreifkomodie gibt es keinen festgeschriebenen Text, sondern nur einen lose skizzierten Handlungsverlauf und eine ungefahre Szenenfolge. Erlaubt sind Musik- und Tanzeinlagen, Akrobatenstucke, Verzweiflungs- und Wahnsinnsausbruche uvm. Mittels starker Gebarden- und Minensprache verkorpern die Schauspieler Typen wie den geilen Alten (bzw. die geile Alte), den schwatzhaften Gelehrten, die kokette Dienerin, den gehornten Ehemann ... 12 13 Im deutschen Sprachraum wirkt sich der Einfluss der Commedia dell‘arte zunachst auf Andreas Gryphius aus, spater dann auf Ferdinand Raimund, Johann N. Nestroy und Goethe. Kaum zu unterschatzen ist ihre Bedeutung fur die Entwicklung des Volks- oder Boulevardtheaters, des Varietes oder der Wanderbuhnen als Vorlaufer der sog. stehenden Buhnen. Denn nicht in der aristokratischen Buhnenpraxis, die der hofischen Selbstinszenierung dient, verfeinert das europaische Theaterwesen seine performativen Qualitaten, sondern im Umfeld der experimentierfreudigen Commedia dell‘arte. 14 Beispiele: • Andreas Gryphius: Horribilicribifax. Teutsch (1663) • Emanuel Schikaneder: Die Zauberflöte (1791) • J. R. Nestroy: Der böse Geist Lumpacivagabundus oder das liederliche Kleeblatt (1833) • Franz Grillparzer: Wehe dem, der lügt (1838) • In der Tradition der Commedia stehen auch Sing- und Maskenspiele wie Goethes Jahrmarktsfest zu Plundersweiler (1773), Tiecks Lustspiel Verkehrte Welt (1798) oder Brentanos Singspiel Die lustigen Musikanten (1802). Einflusse lassen sich auch in spateren Werken ausmachen, so in Hugo v. Hofmannsthals Komodie fur Musik Der Rosenkavalier (1911) oder Paul Ernsts Komodie Pantaleon und seine Söhne (1916). 15 Fur die Sozialgeschichte des (europaischen) Burgertums und modernen Theaters besonders relevant ist das Bürgerliche Trauerspiel: Die Genrebezeichnung ist programatisch, denn auf tragische Weise wird das Schicksal burgerlicher Protagonisten dargestellt.

Wurde der dritte Stand bislang in der Komodie verlacht, so setzt das Burgerliche Trauerspiel der Aufklarung eine burgerliche Werteordnung voraus, die durch schuldhaftes oder uneinsichtiges Verhalten bedroht wird. An die Stelle metaphysischer Machte (Gott, Naturgewalten), die den dramatischen Konflikt in der klassischen Tragodie (aus-)losen, tritt nun der selbstverantwortliche Mensch, der sein Handeln reflektieren und fur die Folgen seiner Verfehlungen einstehen muss. 16 Herausgearbeitet wird im Burgerlichen Trauerspiel des 18. Jhds. allerdings nicht nur die Plausibilitat einer aufgeklarten Welt- und Werteordnung. Im Zentrum konnen auch Einzelschicksale stehen, denen es aufgrund sozialer oder individueller Schwachen nicht moglich ist, dem hohen Tugendideal zu entsprechen. Aufgedeckt werden ebenso die Widerspruche einer Werteordnung, die den Menschen in seinem Selbstwertgefuhl bedroht oder uberfordert. 17 Vorbilder fur das deutsche Burgerliche Trauerspiel sind George Lillos The London Merchant (1731), Samuel Richardsons Clarissa Harlowe (1747f.) sowie Denis Diderots Le fils naturel (1757). Als erstes dt. Burgerliches Trauerspiel gilt Lessings Miss Sara Sampson (1755; s. Video). Lessing ist es auch, der in den Literaturbriefen (1759ff.) und in der Hamburgischen Dramaturgie (1767ff.) die buhnentheoretischen Grundlagen des Genres diskutiert. 18 19 Steht bei Lessing noch die individuelle Entscheidung fur oder gegen die burgerliche Wertewelt im Vordergrund, so wird in den Burgerlichen Trauerspielen des Sturm und Drang und folgender Epochen vermehrt Anklage gegen eine Gesellschaft erhoben, die ihren Mitgliedern keine Entscheidungsraume oder nur den Weg ins Rebellische lasst. Exemplarisch: Heinrich Leopold Wagner: Die Kindsmörderin (1776), Jakob Michael Reinhold Lenz: Der Hofmeister (1776), Friedrich Schiller: Die Räuber (1782). F. Hebbels Maria Magdalena (1844) greift Elemente...


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