Lust auf Kuchen DZP - Note: 1 PDF

Title Lust auf Kuchen DZP - Note: 1
Author Joseph Franz
Course Geschichte der Philosophie
Institution Universität Graz
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Gut zu wissen...


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DZPhil 2021; 69(3): 480–485

Kritik und Antwort Oliver I. Toth*

Lust auf Kuchen Rationale Durchdringung und Arten der Begierde bei Thomas https://doi.org/10.1515/dzph-2021-0042

Dominik Perler stellt in seinem Buch Eine Person sein drei Dimensionen des mittelalterlichen hylemorphistischen Personenbegriffs dar, deren Verknüpfungen an der Diskussion des Verhältnisses der psychologischen Fähigkeiten besonders deutlich werden. Dabei stand im Mittelalter das Problem der Anzahl von substanziellen Formen innerhalb einer Person im Vordergrund: Wird die Person durch eine einzige substanzielle Form oder durch mehrere Formen konstituiert? Da die Formen einer Person ihre Fähigkeiten hervorbringen, geht es bei dieser Frage dementsprechend auch um das Verhältnis der geistigen Fähigkeiten zu den anderen menschlichen Fähigkeiten. Sind die Fähigkeiten des Wahrnehmens und des Denkens voneinander vollständig getrennt oder werden schon vorhandene Fähigkeiten durch den Erwerb neuer, mit anderen Formen einhergehender Fähigkeiten grundsätzlich verändert? Erwirbt der Mensch die rationale Form zusätzlich zur vegetativen und sinnlichen Form (wie von den Pluralisten behauptet wurde) oder wird die sinnliche Form bei den Menschen durch eine die vegetative und sinnliche Form integrierende rationale Form ersetzt (wie von den Unitaristen behauptet wurde)? Wie Perler zeigt, wird eine analoge Frage heutzutage mit Blick auf die Rationalität menschlicher Wahrnehmung diskutiert. Auf der einen Seite stehen PhilosophInnen wie Peter Carruthers, die eine modulare Theorie des Geistes verteidigen, derzufolge die Wahrnehmungsfähigkeit von Personen jener von nicht-rationalen Lebewesen entspricht und das rationale Denken als eine spezifisch menschliche Fähigkeit „nur“ hinzukommt. Man kann dieses Modell des menschlichen Geistes als ein ‚additives Modell‘ bezeichnen. Auf der anderen Seite stehen PhilosophInnen wie Matthew Boyle und John McDowell, die ein ‚transformatives Modell‘ des Geistes verteidigen, wonach die menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten von der rationalen Fähigkeit durchdrungen und dadurch wesentlich verändert

*Kontakt: Oliver I. Toth; [email protected]

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werden (52–55).1 Die menschliche Wahrnehmung ist somit wesentlich anders als die tierische, da der Mensch– anders als das Tier– Gegenstände als etwas wahrnimmt. Perler zeigt, dass die mittelalterlichen Debatten und besonders die Position von Thomas eine zeitgenössische Relevanz haben, insofern als Thomas eine differenzierte Mittelposition zwischen diesen beiden Extremen einnimmt – und dies, obwohl Boyle Thomas als einen Vorläufer seines transformativen Modells der Rationalität betrachtet, in dem auf eine rationale Durchdringung der Wahrnehmung geschlossen wird.2 Demgegenüber zeigt Perler, dass Thomas genaugenommen keine tatsächliche, sondern nur eine prinzipielle rationale Durchdringung der Wahrnehmung annimmt, d.h., dass Personen nur im Normalfall anders als Tiere wahrnehmen– und zwar dann, wenn Phantasmata unter Begriffe subsumiert und dadurch rational transformiert werden. Es werden aber nicht zwingend alle Phantasmata unter Begriffe subsumiert: Starke Emotionen und Wahrnehmungen von Betrunkenen zum Beispiel werden durch rationale Überlegung nicht transformiert und sind daher den Emotionen und Wahrnehmungen von Tieren gleich (55–56). Der Unterschied zwischen der Mittelposition von Thomas und der von Thomas inspirierten Theorie Boyles wird besonders deutlich, wenn die zur unbeherrschten Handlung führende Begierde betrachtet wird. Sein Unitarismus spielt nämlich in Thomas’ Theorie der Unbeherrschtheit eine zentrale Rolle. Die Fähigkeit der Person, über ihre Handlung rationale Kontrolle auszuüben, hängt laut Thomas davon ab, ob das System ihres Geistes wohlgeordnet ist. Gibt es eine Unordnung, entsteht eine Systemschwäche, die die Kontrolle der rationalen Fähigkeiten schwächt bzw. unmöglich macht. Die rationalen Fähigkeiten können deshalb geschwächt werden, weil die Person eine einheitliche Seele hat, in der die gesteigerte Aktivität der sinnlichen Fähigkeiten eine Auswirkung auf die rationalen Fähigkeiten hat (402). Im Idealfall gibt es keine Systemschwäche: Die rationalen Fähigkeiten können die von den sinnlichen Fähigkeiten präsentierten Sinnesbilder vernünftig auswerten und die Person handelt ihren Überlegungen folgend. Im schlimmsten Fall kommt es zu einem Systemkollaps: Die sinnlichen Aktivitäten sind so stark, dass sie die Person „zum Wahnsinn treiben“. Die Person verliert dann die Kontrolle über die Bewegung ihres Körpers vollständig und wird wie ein Tier tätig (395 u. 403). Zwischen diesen beiden Extremen befindet sich der Unbeherrschte,

1 Perler, D. (2020), Eine Person sein, Frankfurt am Main. 2 Boyle, M. (2012), Essentially Rational Animals, in: Günter, A., u. Conant, U. (Hg.), Rethinking Epistemology, Berlin, 395–428, hier 399.

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bei dem lediglich eine Systemschwäche vorliegt: Sein sinnliches Vermögen ist dem rationalen nicht mehr untergeordnet (399). Trotz dieser Systemschwäche hat die Person eine eingeschränkte Kontrolle über ihre Tätigkeit, da sie einem vom rationalen Vermögen gebildeten Urteil folgend handelt (395). Diese Beschreibung widerspricht Boyles transformativem Modell in zwei Hinsichten. Dass die Begierde die Person zum Wahnsinn treiben kann, zeigt, dass Thomas keine tatsächliche vollständige rationale Durchdringung des menschlichen Geistes verteidigt hat. Die Urteile des Unbeherrschten passen ebenfalls nicht zur Theorie Boyles: Diese Urteile sind zwar durch den Einsatz des rationalen Vermögens gebildet, werden aber durch die Stärke der Begierde und nicht durch die Schlüssigkeit der Gründe bestimmt (396–397).3 Wie ist aber der Unterschied in der Stärke der Begierde des Unbeherrschten und des zum Wahnsinn Getriebenen zu erklären? Und inwiefern hat der Unbeherrschte noch rationale Kontrolle über seine Begierde? Perler veranschaulicht die Begierde des Unbeherrschten mit dem Beispiel der Lust auf Kuchen. Er behauptet, dass man die Empfindung dieser Lust nicht vermeiden könne, da sie auf natürliche Weise entsteht und gar nicht durch ein rationales Kommando unterdrückt oder beseitigt werden kann. Die Lust auf Kuchen […] wird durch kausale Prozesse im Körper ausgelöst und ist genauso wenig unterdrückbar wie die Verdauung oder die Atmung. (403)

Nach dieser Analyse und nach Perlers Darstellung in seinem Buch Transformation der Gefühle hat die Person keinen Einfluss auf den Gehalt der Lust. Die rationale Kontrolle kann entweder erst nach der Empfindung der Lust ausgeübt werden (wenn man der Lust Widerstand leistet und das von ihr erzeugte Urteil nicht vorschnell in die Tat umsetzt) oder dadurch, dass man durch das Erzeugen anderer geistiger Zustände die Wirkung der Lust schwächt (wenn man die Aufmerksamkeit auf die gegen die unbeherrschte Handlung sprechenden Gründe richtet). Nach Perler ist die Person also für das spontane Auftauchen der Lust auf Kuchen nicht verantwortlich, da dies ein natürlicher kausaler Prozess ist, wohl aber für den rationalen Umgang mit ihr (400–404).4 Doch inwiefern entsteht die Lust auf Kuchen auf natürliche Weise? Um diese Frage beantworten zu können, muss man die Besonderheiten von Thomas’ Begriff der Natürlichkeit in Betracht ziehen. Thomas unterscheidet drei Bedeutungen von „Natürlichkeit“, je nachdem, wie man den Begriff „Natur“ versteht.

3 Vgl. Boyle, M. (2016), Additive Theories of Rationality: A Critique, in: European Journal of Philosophy 24.3, 527–555, hier 535–541. 4 Vgl. Perler, D. (2011), Transformationen der Gefühle: Philosophische Emotionstheorien 1270– 1670, Frankfurt am Main, 115.

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Natur kann (1) die Materie bzw. die materielle Form oder (2) die Substanz bzw. das Seiende (ens) bedeuten.5 Es ist– v.a. beim Menschen– wichtig, diese beiden Bedeutungen zu unterscheiden. Es ist eines, zu sagen, dass etwas dem Menschen (1) mit Blick auf die individuelle körperliche Beschaffenheit, ein anderes aber, dass es ihm (2) mit Blick auf die allgemeine Form natürlich sei. Im ersten Sinne ist Kränklichkeit dem Menschen natürlich, im zweiten Lachen.6 Die zweite Bedeutung (2) wird mit Blick auf die tierische und menschliche Natur des Menschen weiter geteilt: (2a) Was die individuelle Existenz des Lebewesens bewahrt, ist mit Blick auf die Natur der Gattung (genus) natürlich; im Gegensatz dazu ist das, (2b) was der Vernunft folgt, mit Blick auf die Natur der Art (species) natürlich und charakterisiert nur den Menschen.7 Der Unterschied zwischen tierischer (2a) und menschlicher (2b) Natürlichkeit wird auch als der Gegensatz der Natürlichkeit und Rationalität bezeichnet.8 Der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen von Natürlichkeit (2a) und (2b) ist auch für die Klassifizierung der Begierde relevant.9 Thomas unterscheidet zwischen natürlichen Begierden (concupiscentia naturalis) und rationalen Begierden (concupiscentia rationalis). Die natürlichen Begierden (im Sinne von 2a) sind den Tieren und Menschen gemein. Sie sind auf jene Güter gerichtet, die für das Erhalten des Lebens notwendig sind, wie Streben (appetitus) nach Nahrung, Getränk und Fortpflanzung. Im Gegensatz dazu werden die rationalen Begierden (2b) nur von Menschen empfunden und setzen einen Akt des Erfassens durch die Vernunft voraus.10 Ist nun die Lust auf Kuchen eine natürliche Begierde (2a)? Perlers Vergleich zur Verdauung und Atmung deutet in diese Richtung. Wenn der Kuchen (2a) bloß als Nahrung begehrt wird, ist die Lust auf Kuchen tatsächlich eine natürliche Begierde, die Menschen und Tiere gleichermaßen haben können. Wenn aber der Kuchen als zuckerreiche Leckerei begehrt wird und nicht als etwas für den Lebenserhalt Notwendiges, ist dies keine natürliche Begierde, sondern drückt (2b) eine Überlegung (ratiocinatio) aus. Die Person begehrt den Kuchen, weil sie ihn einmal als genussvolle Leckerei erfasst hat. Sie möchte nicht einfach das Notwendige, sie möchte die Leckerei genießen. Dass die rationale Begierde ein Erfassen voraussetzt, erklärt, wieso rationale Begierden bei verschiedenen Perso-

5 Thomas von Aquin (1961), Summa theologiae, Rom, I–II, q.10, a. 1. 6 Ebd., q.51, a. 1; ebd., q.63, a. 1. 7 Ebd., q.46, a. 5. 8 Ebd., q.31, a. 7. 9 Ebd., q.41, a. 3. 10 Ebd., q.30, a. 3.

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nen unterschiedlich ausfallen können: Je nachdem, was für eine Überlegung sie gebildet haben, sind manche durch einen Kuchen, andere wiederum durch einen fettigen Hamburger der Versuchung ausgesetzt.11 Dass hier der Gehalt der Lust ein Erfassen voraussetzt, trennt (2b) die rationalen Begierden von (2a) den rational nicht durchdrungenen Prozessen. Auch wenn die (2b) Begierde durch einen körperlichen kausalen Prozess ausgelöst wird und die Person für ihr plötzliches Auftauchen keine Verantwortung trägt, ist für ihren Gehalt ein Erfassen konstitutiv, das ein Ziel (finis) setzt.12 Das Prinzip Thomas’ ist, dass geistige Zustände insofern moralisch relevant sind, als sie unter Kontrolle der Person stehen.13 Erfassen sowie Zielsetzung sind rationale Akte, über die eine Person Kontrolle hat: Da die Sinnlichkeit des Menschen– anders als jene des Tiers – rational durchdrungen ist, kann sie als Prinzip einer absichtlichen Handlung (principium actus voluntarii) Subjekt der Sünde (subjectum peccati) sein.14 Perler hat also recht, dass die Person für das spontane Auftauchen der Lust keine Verantwortung trägt. Anders als von ihm dargestellt, kann die Person aber für den Gehalt der (2b) Lust verantwortlich gemacht werden– und nicht nur dafür, wie sie mit der Lust umgeht. Ein möglicher Einwand gegen diese Analyse lautet, dass die Person im diesseitigen Leben nicht anders kann, als den Kuchen zu begehren, sobald sie ihn wahrgenommen hat. Thomas behauptet ja ausdrücklich, dass die Person sich in diesem Leben von den Wirkungen der Erbsünde nicht vollständig befreien kann. Nicht einmal jene, die im Stand der Gnade sind, können alle ungeordneten (inordinatus) Bewegungen der Begierde vermeiden, sondern nur jede Einzelne.15 Thomas betont aber ebenfalls, dass es für die Verantwortung der Person reicht, dass sie eine bestimmte Bewegung– eine bestimmte einzelne Begierde – hätte vermeiden können; es ist nicht notwendig, dass sie alle Bewegungen vermeiden kann.16 Thomas’ Beispiel hierfür ist eine Person, die ihre Gedanken vom sinnlichen Vergnügen ablenkt, indem sie ihre Aufmerksamkeit auf die Betrachtung der Wissenschaften fokussiert, aber dadurch einer Ruhmsucht (inanis gloria) verfällt. Man könnte sich fragen, wieso diese Person für ihre Ruhmsucht verantwortlich sein sollte. Zum einen hätte sie ja nicht jegliche ungeordnete Bewegung vermei-

11  Ebd. 12 Vgl. ebd., q.74, a. 4. 13 Ebd., a. 1; ebd., a. 3, ad. 3; ebd., q.77, a. 6. 14 Ebd., q.74, a. 3, ad. 1. 15 Ebd., ad. 2; ebd., a. 4, sc. 16 Ebd., a. 3, ad. 2.

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den können, zum anderen hat sie ihre Aufmerksamkeit ja nicht mit der Absicht, Ruhmsucht zu erzeugen, gelenkt. Die Antwort von Thomas lautet: Die Ruhmsucht erfüllt die Voraussetzung einer gewollten Sünde (peccatum voluntarium). Da die Person das Empfinden der Ruhmsucht aber direkt nicht gewählt hat, ergibt sich, dass die Person für die Ruhmsucht deshalb die Verantwortung trägt, weil der Gehalt der Ruhmsucht durch eine Zielsetzung– etwa die Hochachtung anderer Menschen zu erwerben – konstituiert ist, und diese sehr wohl gewählt wurde. Auch wenn die Ruhmsucht nicht gewollt war, so ist es doch der Fall, dass die Ruhmsucht gar nicht entstanden wäre, hätte die Person das Ziel, die Hochachtung der anderen zu erwerben, nicht gewählt. Die Person trägt Verantwortung nicht für das spontane Auftreten der Ruhmsucht, sondern für jene Überlegung, die ihren Gehalt konstituiert. Der Unterschied zwischen den zur Systemschwäche und zum Systemkollaps führenden Begierden besteht also darin, dass erstere eine Zielsetzung der Person und damit eine Mitwirkung der rationalen Fähigkeiten voraussetzen. Wenn die ausgehungerte Person den Kuchen wahrnimmt, entsteht eine (2a) Begierde, die nicht nur den Einsatz der rationalen Fähigkeiten unmöglich macht, sondern ihren Einsatz auch nicht benötigt. Wenn eine Person im Normalzustand den Kuchen wahrnimmt, entsteht eine (2b) rationale Begierde– falls die Person das Ziel gesetzt hat, zuckerreiche Leckereien zu genießen. Die Person aber, die das Ziel, nur Salat zu genießen, gesetzt hat, kann jede Menge Kuchen wahrnehmen, empfindet aber keine Lust auf ihn, da die für den Gehalt konstitutive Überlegung fehlt. Für all diese Zielsetzungen, die Akte der rationalen Fähigkeiten sind, trägt die Person Verantwortung. An diesem Beispiel zeigt sich die Mittelposition von Thomas, die nicht nur einen Unterschied zwischen nicht rationalen Tieren und rationalen Geistern, sondern auch zwischen rational durchdrungenen und nicht rational durchdrungenen Begierden und sogar zwischen rational durchdrungenen und nicht durchdrungenen Aspekten der rationalen Begierde unterscheiden kann: Die Entstehung einer Lust ist nicht unter rationaler Kontrolle, dass sie aber eine Lust auf Kuchen ist, ist sowohl moralisch beurteilbar und rational kontrollierbar....


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