„Analytischer Gehalt und zeitgenössische Bedeutung von Hegels Kritik des unmittelbaren Wissens“. PDF

Title „Analytischer Gehalt und zeitgenössische Bedeutung von Hegels Kritik des unmittelbaren Wissens“.
Author Kenneth R Westphal
Pages 16
File Size 1.1 MB
File Type PDF
Total Downloads 334
Total Views 756

Summary

Kenneth R. Westphal (Evanston) ANALYTISCHER GEHALT UND ZEITGENÖSSISCHE BEDEU- TUNG DER HEGELSCHEN KRITIK DES UNMITTELBAREN WISSENS. Eine Übersicht 1. Einleitung Kürzlich habe ich eine vollständige Untersuchung des ersten Kapitels von Hegels Phänomenologie des Geistes, „Sinnliche Gewißheit“, veröffen...


Description

Accelerat ing t he world's research.

„Analytischer Gehalt und zeitgenössische Bedeutung von Hegels Kritik des unmittelbaren Wissens“. Kenneth R Westphal

Related papers

Download a PDF Pack of t he best relat ed papers 

„Die Vielseit igkeit von Hegels Auseinanderset zung mit Skept izismus in der Phänomenologie d… Kennet h R West phal

Kein Sein, keine Unmit t elbarkeit . Hegel über die Vernunft der sinnlichen Gewissheit Diet er Schönecker Genese und Exposit ion der Erscheinung in Hegels Phänomenologie des Geist es Eine Int erpret at ion de… T homas Auinger

Kenneth R. Westphal (Evanston)

ANALYTISCHER GEHALT UND ZEITGENÖSSISCHE BEDEUTUNG DER HEGELSCHEN KRITIK DES UNMITTELBAREN WISSENS. Eine Übersicht

1. Einleitung Kürzlich habe ich eine vollständige Untersuchung des ersten Kapitels von Hegels Phänomenologie des Geistes, „Sinnliche Gewißheit“, veröffentlicht.1 Darin versuche ich zu zeigen, daß Hegel nachgewiesen hat, daß wir Menschen nicht dazu fähig sind, begriffsfreie Erkenntnis von sinnlichen Gegenständen bzw. Ereignissen zu haben. M.E. behandelt Hegel in diesem Kapitel nicht ontologische, sondern erkenntnistheoretische Fragen; das zweite Kapitel fängt jedoch mit der W ahrnehmung eines Würfels Salz an!2 In „Sinnlicher Gewißheit“ argumentiert Hegel, daß unse re Sinnlichkeit eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung unserer kognitiven Bezugnahme auf raum-zeitliche Individuen bildet. Darüberhinaus fordert solche Bezugnahme den Gebrauch apriorischer Begriffe von „Zeit“, „Zeiten“, „Raum“, „Räume“, „Ich“, „Anderen“ wie auch „Individuation“ samt „Verschiedenheit“. Hier möchte ich die Hauptpunkte von Hegels Beweisgang für diese These hervorheben und ihre Bezugnahme auf ei nige seiner Zeitgenossen kurz verdeutlichen.

2. Übersicht über „sinnliche Gewißheit“ Hegels Kapitel gliedert sich in fünf Hauptabschnitte: eine Einführung (Abs. 1–5), drei analytische Abschnitte (Abs. 6–19) und einen Schluß 1

2

„Hegel’s Internal Critique of Naive Realism“. In: Journal of Philosophical Research 25 (2000), 173–229. Zum Kapitel „Wahrnehmung“ s. m ein Buch: Hegel, Hume und die Identität wahrnehmbarer Dinge. Historisch-kritische Analyse zum Kapitel „Wahrnehmung“ in der Phänomenologie von 1807. (Philosophische Abhandlungen, Bd. 72.) Frankfurt/Main 1998.

130

Kenneth R. Westphal

(Abs. 20–21). Im ersten analytischen Abschnitt (Abs. 6–11) hat der Erkenntnisgegenstand Vorrang, im zweiten (Abs. 12–14) das erkennende Subjekt; im dritten (Abs. 15–19) sind der Gegenstand und das Subjekt der Erkenntnis nur zusammen und gleichwertig genommen. Obwohl Hegel die ersten zwei Orientierungen umstellt, folgt er den drei M odi der pyrrho nischen Skepsis sehr eng, die sich auf das urteilende Subjekt, den beurteilten Gegenstand und l etzlich auf beide zusammengenommen gründen.3 In den ersten zwei Hauptabschnitten richtet sich Hegels Kritik des unmittelbaren Wissen auf das, was mit tels „Tokens“ von „ Typen“ demonstrativer Ausdrücke gesagt werden kann, aber im dri tten an das, was mit tels ostensiver Gesten bezeichnet werden kann. Obwohl der Übergang von „sinnlicher Gewißheit“ zur „Wahrnehmung“ sich scheinbar durch ein bloßes Wortspiel bewirkt, gründet er sich in der Tat auf die Verbindung sprachlicher Äußerungen mit ostensiven Gesten. Dies suggeriert richtig zugleich, daß das Verhältnis zwischen Konnotation und Denotation bzw. Intension und Extension zur Analyse Hegels grundlegend ist. Es ist j edoch für Hegel nicht zweckmäßig, eine vollkommene Semantik schon im ersten K apitel der Phänomenologie zu entwickeln. Die kognitive Fähigkeit der Philosop hie muß zuerst (in der Phänomenologie) nachgewiesen werden, bevor er p ositive philosophische Lehren (in der Logik und der philosophischen Enzyklopädie) entwickeln darf. Trotzdem ist es für Hegel grundlegend, schon in „Sinnliche Gewißheit“ u.a. einige Grundzüge ei ner Semantik der einzelnen Gegenstandsbeziehung zu en twickeln, sofern sie unser Wissen von raum-zeitlichen Individuen betreffen. In dieser Hinsicht versucht Hegel einige basa le begriffliche Voraussetzungen unserer kognitiven Beziehungen auf raum-zeitliche Individuen herauszuarbeiten. Hegels These ist, daß das, was man durch Gebrauch demonstrati3

Sextus Empiricus: Opera/Works, 4 Bde. Griechisch, mit englischer Übersetzung von Rev. R.G. Bury (Cambridge 1933), Bd. I; Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Eingel. und übers. von M. Hossenfelder. Frankfurt/Main 1968, 38. Hegel war mit den Schriften des Sextus sehr gut vertraut. Er vermerkt diese drei Tropen in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (TWA 19:376); Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 8:152. Hamburg 1983. Obwohl er die 17 Haupttropen in dem „Skepticismus“-Aufsatz resumiert (GW 4:214–18), vermerkte Hegel dort nicht diese drei. Insofern hat Hegel seine Bezugnahme auf die pyrrhonische Skepsis in der Phänomenologie des Geistes vertieft im Vergleich zum „Skepticismus“-Aufsatz.

Analytischer Gehalt und zeitgenösische Bedeutung

131

ver Tokenausdrücke sagt und das, was man durch ostensive Gesten bezeichnet, voneinander abhängig ist und erfolgreiche Bezeichnungsakte bzw. Bestandteile unseres Wissens von Raum-Zeit-Individuen nur durch das bildet, was es bedeutet, wobei bestimmte Bedeutung bzw. Bezeichnung – kognitive Gegenstandsbezogenheit – nur durch Begriff-vermittelte bestimmte Gedanken über die Raum-Zeit-Region des gemeinten Individuums möglich ist, sei es Gegenstand oder Ereignis. Darüberhinaus etabliert Hegel die Unterscheidung der Identität und der Prädikation durch reductio ad absurdum ihrer Unu nterschiedenheit. Doch gehört es zur Bedeutung eines Tokens eines indexikalischen Typworts, daß ei n bestimmter Sprecher eine best immte Sache innerhalb einer bestimmten Raum-Zeit-Region bezeichnet.4 Damit ist Hegel einig, aber darüberhinaus weist er nach, daß die Bestimmung sowohl des Orientierungsursprungs (nämlich die des Sprechers) als auch des eigentlichen Bereichs der angedeuteten Raum-Zeit-Region (nämlich die des bezeichneten Individuums) nur durch Gebrauch der Begriffe von Raum, Zeit und gewisser Bestimmungen von Raum-Zeit-Bestimmbaren (nämlich von den bestimmbaren Begriffen eines Raumes bzw. eines Zeitabschnitts) möglich ist, wobei diese Bestimmungen nur durch bestimmten Gebrauch jener Begriffe festzusetzen sind. Demzufolge ist ostensive Bedeutung bzw. gegenstand-bezogenes Denken aufgrund von angeblich begriffsfreiem Wissen uns schlicht unmöglich. Die Frage ist: Wie ist dieser Schluß zu rechtfertigen, gegen diejenigen, die ihn verneinen? Strategisch gesehen, muß Hegel begriffsfreies Wissen gründlich zurückweisen, um den Em pirismus und den s tarken erkenntnistheoretischen Fundamentalismus zu widerlegen, aber auch, um diesen Ausweg aus dem pyr rhonischen Kriteriumsdilemma zu s chließen.5 Zu sei nen zeitgenössischen Gegnern zählen Hamann, Jacobi, G. E. Schulze und Krug.

4 5

Gareth Evans: The Varieties of Reference. Kap. 6. Oxford 1982. S. dazu meinen Aufsatz in d iesem Band: „Die Vielseitigkeit der A useinandersetzung Hegels mit dem Skeptizismus in der Phänomenologie des Geistes“, § 3,2.

132

Kenneth R. Westphal

3. Übersicht über Hegels drei analytische Hauptabschnitte Offiziell verneint die sinnliche Gewißheit die Rolle der Entwicklung eines mannigfaltigen Gedankens (GW 9:63,20–22, 25–27), samt der Rolle der mannigfaltigen Beschaffenheit bzw. Verhältnisse einer besonderen sinnlichen Sache innerhalb unseres angeblichen Wissens davon (GW 9:63,22–24,27f). Diese Aspekte heranzuziehen würde die U nterscheidung ihrer Mannigfaltigkeit samt ihrer Zusammennehmung erfordern, was zugleich unser tätiges Begreifen der Sache bestätigen würde. Das ist genau die Gegenthese zur sinnlichen Gewißheit. Hier ist zu be merken, daß di e Hauptsache bei der sinnlichen Gewißheit die Unvermitteltheit, die „Direktheit“ des Wissens ist. Ihre „Gewißheit“ liege darin, daß solches Wissen für uns Menschen möglich, sogar basal sei (GW 9:63,1–5). Die erkenntnistheoretischen Bedeutungen von „Gewißheit“, ob „Sicherheit“, „Unfehlbarkeit“ bzw. „Unkorrigierbarkeit“ kommen in diesem Kapitel gar nicht in Frage. Sei der erkenntnistheoretische Fundamentalismus untauglich, seien diese weiteren Feinheiten gar nicht von Belang. Schon in dem Einleitungsabschnitt bemerkt Hegel, daß die ei gentliche sinnliche Gewißheit immer eine Instanzierung von sinnlicher Gewißheit ist; sinnliche Gewißheit ist eine wiederholbare Stellungnahme (GW 9:64,1–4). Zugleich bildet sinnliche Gewißheit ein Verhältnis zwischen einem Subjekt und einem Gegenstand; in sinnlicher Gewißheit vermitteln sich diese zwei Momente des Verhältnisses (GW 9:64,4–11). Um seine Gegenthese zu begründen, muß Hegel die sinnliche Gewißheit streng intern untersuchen und auswerten.6 Darum ist seine Hauptfrage, ob ein jeder Gegenstand des angeblich unmittelbaren Wissens tatsächlich unmittelbar und al s unmittelbar innerhalb der eigentlichen Erfahrung der sinnlichen Gewißheit erscheint. Daher läßt Hegel zugleich Beschreibungen bzw. Prädikate beiseite, deren Gebrauch entweder eine petitio principii begeht bzw. die Haupthese der sinnlichen Gewißheit preisgibt. Stattdessen fokusiert Hegel auf Tokens indexikalischer Ausdrücke wie „Dieses“, „Jetzt“ und „Hier“. He-

6

S. meinen Aufsatz: „Hegel’s Solution to the Dilemma of the Criterion“. In: The Phenomenology of Spirit Reader: A Collection of Critical and Interpretive Essays. Hrsg. von J. Stewart. Albany 1998, 76–91.

Analytischer Gehalt und zeitgenösische Bedeutung

133

gel betont die an geblich bloß ostensive Funktion dieser Worte innerhalb sinnlicher Gewißheit durch Gebrauch definitiver Artikel, z.B. „das Diese“, „das Jetzt“, „das Hier“, auch „die Nacht“ bzw. „der Tag“. Dadurch betont er die Irrelevanz des prädikativen Gebrauchs solcher Termini. Zum Behuf der sinnlichen Gewißheit verwendet Hegel diese Termini genau wie logische Eigennamen im Sinne Russells. Das erste Beispiel des Jetzt ist „Das Itzt ist die Nacht“ (GW 9:64, 32f). Das Wörtchen „ist“ soll i n diesem Satz nu r eine Ide ntität ausdrücken. Die Identität ist der defiziente Fall eines Verhältnisses, nämlich das Sichverhalten einer einzigen Sache. Das ist für die sinnliche Gewißheit das einzig erlaubbare Verhältnis. Hegel behauptet, wir können die Richtigkeit dieses Beispiels sinnlicher Gewißheit bloß durch seine Aufbewahrung prüfen. Mittags hat dieses Beispiel keine Wahrheit mehr. Die sinnliche Gewißheit kann keine Wahrheit über Raum-Zeit-Individuen erfassen, ohne ihre Wahrheiten zeitlich zu bestimmen, als gültig nur innerhalb eines bestimmten Zeitabschnitts. Die sinnliche Gewißheit behauptet von ihrem Gegenstand nur, daß er „ist“ (GW 9:63,28). Aber die s innliche Gewißheit ist gar nicht imstande, ihr undifferenziertes Verständnis von „ist“ mit ihren zeitlich beschränkten, vorübergehenden Gegenstandserfahrungen zu vertragen. Unser Wissen von sinnlichen Individuen fordert zugleich die Begriffe von „Zeit“, aber auch von bestimmbaren „Zeiten“. Insofern muß eine jede haltbare Analyse menschlicher Erkenntnis sinnlicher Individuen schon allgemeine wie auch bestimmbare Begriffe zulassen. Die einzige on tologische These Hegels in diesem Kapitel ist, daß der alt-griechische „ontologische“ Wahrheitsbegriff, nämlich daß „Wahrhei t“ gleich „Realität“ unter der Kennzeichnung „Unwandelbarkeit“, von überhaupt keinem Belang im Bereich menschlichen Erfahrung bzw. Erkenntnis ist.7 Natürlich haben Tokens indexikalischer Ausdrücke eine Art „Charakter“ bzw. „Rolle“, wodurch sie gewisse Individuen bezeichnen.8 Aber das Problem für die sinnliche Gewißheit liegt in ihrem Versuch, solche Ausdrücke bloß als logische Eigennamen zu verwenden. Nur solch eine Verwendung ist dem unmittelbaren Wissen möglich. Die

7

8

S. meinen Aufsatz: „Hegel, Harris and Sextus Empiricus“, in: Owl of Minerva 31,2 (2000), 155–172, § 3. S. Anm. 4.

134

Kenneth R. Westphal

Anerkennung des „C harakters“ bzw. der „Rolle“ von To kens indexikalischer Ausdrücke ist zugleich die Verneinung, sogar die Widerlegung der sinnlichen Gewißheit; umsomehr, weil die Bestimmung des „Char akters“ bzw. der „Rolle“ von Tokens indexikalischer Ausdrücke nur durch den raum-zeitlichen Kontext ihres Gebrauchs begrifflich vermittelt ist. Im zweiten Hauptabschnitt ihrer Untersuchung revidiert und entwickelt die sinnliche Gewißheit ihre Stellungnahme durch Anerkennung der Kontextbezogenheit des Gebrauchs indexikalischer Typen- und Tokenausdrücke. Sie behauptet nun, daß echte sinnliche Gewißheit nur innerhalb der eigenen Gegenstandsbezugnahme zu finden sei: „Ihre Wahrheit ist in dem Gegenstande, als meinem Gegenstande, oder im Meynen, er ist, weil ich von ihm weiß“. (GW 9:66,7f ) Auf diese W eise fokusiert die sinnliche Gewißheit auf eine besondere Instanz sinnlicher Gewißheit, z.B. „Das Hier ist ein Baum“ (vgl. GW 9:66,17). Dagegen notiert Hegel, ein anderer behauptet „Das Hier ist das Haus“ (vgl. GW 9:66,18f ). W ozu? Zuerst sei bemerkt, daß Skepsis in Bezug auf das Fremdpsychische keine Sache des begriffsfreien Wissens ist; im Gegenteil fordert solche Skepsis philosophische Ausbildung, darunter begriffliche Verständnisse und Fertigkeiten. Die erste Pointe von Hegel ist, daß die bloße Sinnlichkeit der sinnlichen Gewißheit (GW 9:66,12f ) nicht zur Unterscheidung verschiedener kognitiver Subjekte hinreicht. Zweitens zeigt Hegel, daß auch das W ort „Ich“ kein logischer Eigenname, sondern ein indexikalischer Ausdruck ist, der auch nur durch die Unterscheidung von Type- und Token-W örtern und durch die Kontextbezogenheit seines „Charakters“ bzw. seiner „Rolle“ irgend ein bestimmtes Individuum bezeichnet. Es sei bemerkt, daß die Beispiele „Haus“ und „Baum“ dem ersten Gespräch unter Hylas und Philonous entstammen: sie sind Beispiele des unreflektierten Alltagsrealismus bei Hylas, gegen welchen Philonous auf Grund einer Vorstellungstheorie des Denkens erwidert.9 Diese Bei9

Hylas: „If it comes to that, the point will soon be decided. What more easy than to conceive a tree or house existing by itself, independent of, and unperceived by any mind whatsoever? I do at this present time conceive them existing after that manner“. G. Berkeley: „Three Dialogues between Hylas and Philonous“. In: Philosophical Works, including the works on v ision. Hrsg. von M.R. Ayers. London, Dent; Totowa 1975, 158. Die ganze Seite ist einschlägig. (Für den Hinweis auf Berkeley danke ich Cinzia Ferrini.)

Analytischer Gehalt und zeitgenösische Bedeutung

135

spiele aus B erkeley sind auch von Hum e im gleichen Kontext zum gleichen Zweck wiederholt.10 Im dritten Hauptabschnitt ihrer Untersuchung versucht die sinnliche Gewißheit allen oben angeführten Problemen dadurch zu entgehen, daß sie jene Probleme bloß ihrem Sprachgebrauch unterstellt. Angeblich war ihr Fehler, ihre Behauptung auch anderen, notwendigerweise außerhalb des Erkenntniskontexts stehenden sprachlich zu ve rmitteln (GW 9:67,27–30). Jetzt reduziert sie die Gültigkeit ihrer sinnlichen Gewißheit bloß auf eine jede Instanz ihrer Bezugnahme auf e in Individuum. Nur innerhalb des Kontexts selbst genieße man begriffsfreies Wissen einer einzelnen Sache (GW 9:67,19–27). W elche Sache sinnliche Gewißheit unmittelbar weiß, kann sie nur durch eine ostensive Geste bezeichnen. Allgemein resümiert argumentiert Hegel, daß ostensive Gesten keineswegs Bereichsunbestimmbarkeiten festsetzen bzw. entgehen. Die punktuellen Hier, Jetzt bzw. Dieses haben keine Ausdehnung und beinhalten daher keine Raum-Zeit-Gegenstände. Aber ein jedes ausgedehntes Hier, Jetzt bzw. Dieses bezeichnet einen Gegenstand nur durch die Bestimmung bzw. Festsetzung seiner Ausdehnung (seines Bereichs), nämlich eines Zeitabschnitts samt eines Volumens Raum. Schon eine grobe Bestimmung eines Raum-Zeit-Bereichs fordert den Gebrauch der Begriffe „Zeit“, „Zeiten“, „Raum“, „Räume“ wie auch „Einzelne“ und „Verschiedenheit“. Hegel schreibt: „Das Aufzeigen ist also selbst die Bewegung, welche es ausspricht, was das Itzt in W ahrheit ist; nemlich ein Resultat, oder eine Vielheit von Itzt zusammengefaßt [...]“. (GW 9:68,18–20)

Wir können den Gebrauch ostensiver Gesten überhaupt weder verstehen noch deuten ohne Verständnis vorausgesetzter Raum-Zeit-Koordinaten samt Feststellung des Raum-Zeit-Bereichs des gemeinten Individuums. Bloße Sinnlichkeit ist zwar notwendig für die Sinneserkenntnis eines Individuums, aber nicht daz u hinreichend, weil sie weder identifiziert noch bezeichnet, welches Individuum irgendwann, ir-

10

D. Hume: „An Essay Concerning Human Understanding“. In: Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles of Morals. Hrsg. von P.H. Nidditch. New York 31975, § 12, S. 152.

136

Kenneth R. Westphal

gendwo, durch irgendwen erkannt worden ist. Weder unmittelbar noch begriffsfrei ist unser Wissen von einzelnen sinnlichen Sachen überhaupt. Nur im letzten Absatz des Kapitels entwickelt Hegel den Hauptpunkt seiner Kritik des unmittelbaren Wissens. Er stellt heraus, daß die Rede von „[...] dem Daseyn äusserer Gegenstände, welche noch genauer, als wirkliche, absolut einzelne, ganz persönliche, individuelle Dinge, deren j edes seines absolutgleichen nicht mehr hat [...]“. (GW 9:69,35–70,1)

gar nicht dazu dient, die Besonderheit von Dinge, auch nicht ein besonderes Ding, zu bezeichnen, genau darum, weil diese Worte genau so gut auf jedes raum-zeitliche Ding passen bzw. deuten. Aber solche Worte durch explizite, auch detaillierte Beschreibungen zu ergänzen, löst das Problem bestimmter Bezeichnung immer noch nicht. Wie spezifisch oder ausführlich eine Beschreibung immer sei, kann überhaupt nicht entscheiden, ob die Beschreibung leer, bestimmt oder mehrdeutig bestimmt ist, weil sie nur ein einziges Individuum beschreibt, oder mehrdeutig, weil sie mindestens zwei (oder mehr) Individuen beschreibt. Ob ei ne Beschreibung bestimmt (im Sinne Russells) ist, ist zugleich durch die Beschreibung, aber auch durch den Weltzustand fixiert. Um von einem sinnlichen Individuum zu wissen fordert zugleich Beschreibung samt ostensiver Bezeichnung. Nur dadurch können wir die Beschreibung einem gemeinten Individuum zuschreiben. Das i st schon jetzt die Prädikation, die Hegel hierdurch als notwendiger Bestandteil menschlicher Erkenntnis raum-zeitlicher Individuen etabliert. Umgekehrt stellt Hegel auch heraus, daß wir nur durch Prädikation den relevanten Raum-Zeit-Abschnitt bestimmen können – durch Aufzeichnung seines Inhab ers. Nur dadurch können wir merken bzw. feststellen, genau welche Raum-Zeit-Region zu bezeichnen ist, um „dieses“ Individuum zu befassen. Insofern stimmt Hegel weit im Voraus mit der Analyse von Gareth Evans in „Identity and Predication“ genau überein.11

11

Journal of Philosophy 72,13 (1975), 343–363.

Analytischer Gehalt und zeitgenösische Bedeutung

137

4. Zeitgenössische Vertreter der „Sinnlichen Gewißheit“ 4,1 Unter Hegels Zeitgenossen lassen sich Hamann, Jacobi, G. E. Schulze und Krug al s Hauptvertreter der sinnlichen Gewißheit nachweisen.12 Hamann hat „sinnliche Gewißheit“ angenommen, aber ohne sie ausführlich zu entwickeln.13 Daher verdient er hier keine weitere Erwähnung. 4,2 G.E. Schulzes Vernunftskepsis ist sicherlich der Hauptvertreter desjenigen „philosophischen Skepticismus“, auf den Hegel hinweist (GW 9:69,4), der die abso lute Wahrheit der bloß einzelnen Dinge behauptet. 1 4 Schulze war der klarste und entwickeltste Vertreter der sinnlichen Gewißheit. Auch in seinen reifen A rbeiten (die läng st nach der Phänomenologie abgefaßt und veröffentlicht wurden) besteht er darauf, daß di e Sinnlichkeit für das Wissen von besonderen raum-zeitlichen Gegenständen genügt, daß solches Wissen nicht mittelbar, sondern unmittelbar (schlußlos) ist, und daß solches Wissen überhaupt keine Vorstellungen bzw. Gedanken fordert, um den gemeinten Gegenstand zu identifizieren. Er verneint Kants Ansicht, daß eine jede menschliche Erkenntnis eines Urteils bedarf, wie auch Vorstellungs...


Similar Free PDFs