Essay - Note: 2,0 PDF

Title Essay - Note: 2,0
Course Kants kritische Philosophie
Institution Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
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Summary

Essay über die Lüge...


Description

Die Lüge – jeder kennt sie, doch keiner will darüber reden, geschweige denn eingestehen, dass er schon selbst von ihr Gebrauch gemacht hat. Wenn über Lügen gesprochen wird, dann in Form von Beschuldigungen gegenüber Dritte, gelogen zu haben. Sie stellt die Leute an den Pranger, die sie gebrauchen und sie ist ein unangenehmes Thema, wenn man selbst als Lügner ertappt wird. Dennoch ist der Umgang mit Lügen meines Erachtens ein zentraler Bestandteil, um die Validität einer beliebigen Aussage in der Gesellschaft hinsichtlich

ihres

Wahrheitsgehaltes

beurteilen

zu

können.

Das

Funktionieren

zwischenmenschlicher Beziehungen – sei es im privaten Leben oder auch in geschäftlichen Beziehungen – ist fundamental abhängig genau von dieser Validität. Je weniger man sich auf die wahrheitsgemäße Aussage seines Gegenüber verlassen kann, desto wertloser wird diese Aussage im Hinblick auf das eigene Handeln. Immanuel Kant beschreibt in seinem Aufsatz

"Über

ein

vermeintliches

Recht

aus

Menschenliebe

zu

lügen"

die

nichtverhandelbare Pflicht, stets die Wahrheit zu sagen. Nach Immanuel Kant ist selbst bei Gefahr für Leib und Leben das Recht für eine Lüge (Notlüge) nicht gegeben. Kant formuliert den kategorischen Imperativ, der besagt, dass man stets "[...] nach der Maxime [zu handeln habe], durch die [...] [man] zugleich wollen [...] [kann], dass sie ein allgemeines Gesetz werde." Der kategorische Imperativ verbietet somit die Notlüge als Ausnahmehandlung in besonderen Situationen, da nach Kant jede Handlung einem allgemeinen Gesetz genügen muss. Mir stellt sich nun die Frage, ob die kategorische Verneinung der Notlüge als moralisch korrektes Verhalten gerechtfertigt ist. Man stelle sich vor, man erfährt von den Mordplänen eines potentiellen Mörders, von welchem man über Informationen über sein potentielles Opfer befragt wird. Ist es in diesem Fall nicht moralisch notwendig, über den Aufenthaltsort oder sonstige Umstände des potentiellen Opfers zu lügen, um dessen Leben zu retten? Wäre man nicht selbst Mittäter, wenn man wahrheitsgemäß dem potentiellen Mörder gegenüber aussagen würde? Hier sehe ich gravierende Mängel in der Aussage des Aufsatzes "Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen" von Immanuel Kant, welche ich in diesem Essay kritisch diskutieren möchte. Kant vertritt in seinem Aufsatz die Auffassung, dass es in keinem Fall erlaubt sei zu lügen, auch wenn dadurch ein Menschenleben vor einem Mörder gerettet werden könnte. Der Lügner könne sogar nach Kants Auffassung vor einem „bürgerlichen Gerichtshof“ für

seine Lüge zur Rechenschaft gezogen werden, wenn der Mörder zu einem späteren Zeitpunkt sein Opfer „zufällig“ ausfindig macht. Der oberste Grundsatz für Kants Moralphilosophie ist das Sittengesetz, welches den kategorischen Imperativ beinhaltet. Im Folgenden möchte ich die Moralphilosophie, welche sich von sonstigen Philosophien grundlegend unterscheidet, kurz erläutern. Zu unterscheiden ist zwischen materialen und formalen Prinzipien. Bei den materialen Prinzipien wird der Bestimmungsgrund des Willens in einen bestimmten möglichen Gegenstand des Willens gesetzt. Materiale Prinzipien sind also empirisch und zufällig, können also als Prinzipien der Sittlichkeit nicht verwendet werden. Scheidet nun die mögliche Materie des Willens zur Festsetzung des Pflichtbegriffs aus, so kann nur noch auf dessen bloße Form zurückgegriffen werden, vorausgesetzt jene ist als oberstes moralisches Gesetz brauchbar. Daraus ist abzuleiten, dass der Pflichtbegriff und das Prinzip der Sittlichkeit nicht aus den möglichen Gegenständen des Willens, sondern nur aus dessen Form abgeleitet werden können. Demnach ist jedes Handeln nur dann zu rechtfertigen, wenn es als Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung dienen kann. Das Sittengesetz ist für Kants Lehre in zweifacher Weise von besonderer Bedeutung. Es hat eine Begründungsfunktion und eine Kriterienfunktion. Der gesamte Bereich des menschlichen Pflichthandelns wird durch das Sittengesetz beschrieben. Die Moralität einer Handlung ist nur auf Basis des Sittengesetzes möglich. Alleine die Tatsache ist entscheidend, dass das Handeln als Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung dienen kann. Das Sittengesetz ist außerdem die einzige Gesetzgebung, die es ermöglicht, menschliches Verhalten auf seine Moralität hin zu beurteilen. Diese Grundsätze werden in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und in „der Kritik der praktischen Vernunft“ beschrieben. Im vorliegenden Fall einer Lüge aus Menschenliebe steht und fällt jede Entscheidung mit der Gültigkeit dieses Gesetzes. Selbst wenn man von einem absoluten Verbot der Lüge ausgeht, bleibt sie in ihrer Gültigkeit von der Gültigkeit der ihr zugrundeliegenden moralphilosophischen Grundsätze abhängig. Wenn sich andererseits das absolute Verbot der Lüge nicht als stichhaltig erweist, so können die Grundsätze von Kants Lehre nicht ins Wanken gebracht werden. Es stellt sich nun die Frage, ob das Lügen gegenüber eines Mörders nicht per se das Potential zu einem allgemein gültigen Gesetz hätte. Das Kant’sche Sittengesetz enthält ein Tugendgesetz und ein Rechtsgesetz. Die Frage nach der Befugnis, in besonderen Fällen andere zu belügen, lässt sich nun sowohl im

Hinblick auf das Tugendgesetz als auch in Hinblick auf das Rechtsgesetz beleuchten. Gegenstand der Tugendlehre ist nicht das äußere Handeln, sondern die innere Zwecksetzung. Die „innere Freiheit“ wird in der Tugendlehre „unter Gesetze“ gebracht. (Akademie-Ausgabe, VI, 380) Der moralische Imperativ angepasst auf die Tugendlehre lautet nun: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann.“ (Akademie-Ausgabe, VI, 395) Im Gegensatz zur Rechtslehre wird in der Tugendlehre das Verhältnis äußerer Willküren zueinander nicht thematisiert. Neben der Pflicht kommt es für die Tugendhaftigkeit des Verhaltens auf die Universalisierbarkeit der zugrundeliegenden Zwecksetzungsmaxime an. Alleine die Tauglichkeit zu einer allgemeinen Gesetzgebung reicht für die Maxime einer Handlung also nicht aus. Entscheidend ist, dass auch die Maxime der Zwecksetzung einer allgemeinen Gesetzgebung genügt. Auf das Beispiel der Lüge gegenüber eines Mörders übertragen bedeutet dies, dass die Lüge aus Menschenliebe dann erlaubt wäre, wenn die Maxime des Wollens und Handelns, die ihr zugrunde liegt, allgemein einem Gesetz genügen würde. Sie wäre hingegen verboten, wenn das Nichthaben ihrer Maxime nicht gesetzestauglich wäre. Kant hingegen vertritt wie bereits bekannt ein absolutes Verbot der Lüge. Unter allen Umständen geht er davon aus, dass die Unwahrhaftigkeit eine Verletzung der Würde der Menschheit in der eigenen Person darstellt, weil sich der Mensch im Falle einer Lüge der Möglichkeit beraubt, sich als Vernunftwesen darzustellen. Die Wahrhaftigkeit ist auch gegen Andere als uneingeschränkte Tugendpflicht anzusehen, weil man sich die Lüge als allgemein gültiges Naturgesetz nicht vorstellen kann. Die unvollkommene Pflicht des Wohlwollens gegenüber Anderer ist also nicht in der Lage, die strenge Pflicht der moralischen Selbsterhaltung einzuschränken. In Kants Aufsatz „Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen“ geht es allerdings nicht um Zwecksetzungsmaximen, die auf ihre Universalisierbarkeit hin überprüft werden. Die Frage, ob im Falle einer Lüge aus Menschenliebe der Gebrauch der inneren Freiheit gegen den Zweck der der Menschheit verstößt, ist irrelevant. Es geht vielmehr darum, dass die Lüge aus Menschenliebe ein Problem des Rechts darstellt. Im Bereich der Rechtslehre kann der moralische Imperativ folgendermaßen formuliert werden: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könnte.“ (AkademieAusgabe, VI, 231) Die Tauglichkeit der bloßen Handlungsmaxime zum allgemeinen

Gesetz ist zum Rechthandeln ausreichend, zum tugendhaften Handeln hingegen ist das nicht ausreichend. Dabei ist es ausdrücklich nicht von Bedeutung, auf Basis welcher Zwecksetzung das Handeln erfolgt. Eine Handlung ist genau dann rechtmäßig, wenn sie mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen Bestand haben kann. Bezogen auf das Beispiel der Lüge gegenüber eines Mörders bedeutet das, dass die Lüge aus

Menschenliebe

nur

dann

erlaubt

wäre,

wenn

sie

mit

der

allgemeinen

Freiheitsgesetzlichkeit vereinbar wäre. Verpflichtend wäre sie dann, wenn ihre Unterlassung damit nicht vereinbar wäre. Kant spricht sich hier ebenfalls für ein bedingungsloses rechtliches Verbot der Lüge aus. Der Grund dafür ist, dass die Lüge unter keinen Umständen mit der äußeren Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend gedacht werden kann. Für das Beispiel bedeutet dies: Wenn man einem Mörder vorsätzlich die Unwahrheit sagt, um damit das Leben eines Dritten zu retten, so ist das im rechtlichen Sinne Unrecht. Mir stellt sich nun die Frage, was Kant dazu bewegt, den potentiellen Verlust eines Menschenleben ein geringeres Gewicht zuzusprechen als im rechtlichen Sinne korrekt zu handeln. Um dies zu verstehen, muss man sich den Kontext anschauen, unter dem Kants Aufsatz „Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen“ entstanden ist. Er wurde von Benjamin Constant provoziert. Constant vertritt die Meinung, dass die unbedingte Pflicht, die Wahrheit zu sagen, das gesellschaftliche Zusammenleben unmöglich machen würde. Wäre dies der Fall, so argumentiert Kant, so wäre die Lüge unter bestimmten Bedingungen nicht nur ein Recht, sondern eine Rechtspflicht. Und eine solche Rechtspflicht existiert in Kants Lehre nicht. Die Wahrhaftigkeitspflicht wird durchaus von Constant anerkannt, allerdings gilt für Constant, dass eine Pflicht notwendigerweise mit einem Recht zusammenhängt. Gibt es also kein Recht auf die Wahrhaftigkeit eines Anderen, so kann daraus auch keine entsprechende Pflicht abgeleitet werden. Allerdings gibt es kein Recht auf Wahrhaftigkeit, um damit einem anderen zu schaden. Nach Constant besteht also gegenüber dem Mörder keine Pflicht zur Wahrhaftigkeit. Den Mörder zu belügen, um damit ein Menschenleben zu retten, wäre also rechtens. Um auf die heutige Rechtssprechung in der Bundesrepublik Deutschland überzuleiten, möchte ich § 138 StGB zitieren:

„Wer von dem Vorhaben oder der Ausführung […] eines Mordes (§ 211) oder Totschlags (§ 212) oder eines Völkermordes (§ 6 des Völkerstrafgesetzbuches) oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 des Völkerstrafgesetzbuches) oder eines Kriegsverbrechens (§§ 8, 9, 10, 11 oder 12 des Völkerstrafgesetzbuches) oder eines Verbrechens der Aggression (§ 13 des Völkerstrafgesetzbuches) […] zu einer Zeit, zu der die Ausführung oder der Erfolg noch abgewendet werden kann, glaubhaft erfährt und es unterlässt, der Behörde oder dem Bedrohten rechtzeitig Anzeige zu machen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. […]“ Auch

wenn

dieser

Paragraph

nicht

ausdrücklich

die

Lüge

gegenüber

eines

Schwerverbrechers thematisiert bzw. legalisiert, wird deutlich, dass die Verhinderung besonders schwerer Verbrechen wie z.B. Mord die Rechtspflicht jeder Bundesbürgerin und jedes Bundesbürgers ist. Man wäre also selbst Straftäter, wenn man eine geplante schwere Straftat nicht wenigstens zur Anzeige bringt. Der Versuch der Verhinderung sonstiger Straftaten, die nicht in § 138 StGB erwähnt werden, ist hingegen rechtlich gesehen nicht zwingend notwendig. Demnach erscheint es mir wichtig, zwischen besonders schweren Verbrechen und sonstigen Verbrechen bzw. Vergehen zu unterscheiden. Um ein gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen, halte ich Kants Ansatz der kategorischen Ablehnung der Lüge für berechtigt. Allerdings bin ich der Meinung, man sollte die Lüge als Instrument zur Verhinderung eines besonders schweren Verbrechens zulassen und ihr auch in diesem Kontext einen rechtlichen Rahmen geben. Die Lüge zur Verhinderung besonders schwerer Verbrechen soll neben dem Verbot der Lüge in sonstigen Fällen rechtlich existieren können. Eine solche Unterscheidung ist in Kants Ethik nicht zu finden und das halte ich für einen gravierenden Mangel. Kants Aufsatz „Über das vermeintliche Recht aus Menschenliebe zu lügen“ findet für die Frage nach der Lüge gegenüber eines Mörders zur Rettung eines Menschenlebens keine ethisch vertretbare Antwort. Die sture Pflicht zur Wahrhaftigkeit über den Wert eines Menschenleben zu setzen, halte ich für nicht gerechtfertigt. Andererseits muss berücksichtigt werden, dass die Lüge gegenüber eines Mörders im Alltag glücklicherweise eine seltene Sondersituation darstellt. In den meisten anderen Fällen halte ich die Wahrhaftigkeit und das Vertrauen, Wahrhaftigkeit zu erfahren für einen essentiellen Eckpfeiler des menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Je weniger man sich auf die Wahrhaftigkeit des Anderen verlassen kann, desto mehr wird die

Gesellschaft aus unsozialen Einzelkämpfern bestehen, weil ein soziales Zusammenleben nur dann funktionieren kann, wenn man eine Garantie hat, dass jedes Individuum Wahrhaftigkeit von den anderen erfährt. Ich sehe in Kants Aufsatz somit dennoch ein essentielles Plädoyer für die Wahrhaftigkeit als unbedingt notwendige Bedingung für das Funktionieren des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das Beispiel der Lüge gegenüber eines Mörders offenbart einen gravierenden Mangel der Kant’schen Ethik. Schwere Verbrechen wie Mord haben einen besonders sensiblen gesellschaftlichen Stellenwert und der Verhinderung derer kommt ein besonderes Gewicht zu. Die Lüge ist hierbei ein probates Mittel, einen Mord zu verhindern. Für dieses Beispiel findet Kant keine zufriedenstellende Antwort. Dennoch muss auch erkannt werden, dass die Lüge zur Verhinderung eines Mordes im Vergleich zu anderen möglichen Lügen eine quantitative Randerscheinung ist. In den meisten anderen Lebensbereichen kommt dem absoluten Verbot der Lüge eine wichtige Bedeutung zu....


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