Title | Fall 6 Reinheitsgebot - Sommersemester |
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Course | Europarecht |
Institution | Universität Regensburg |
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Sommersemester...
VorlesungEuroparechtSoSe2016 LehrstuhlProf.Dr.iur.JürgenKühling,LL.M. UniversitätRegensburg
Fall6(=Beispielsfall) EuGH,Rs.178/84,KOM/Deutschland,Slg.1987,1227(=Reinheitsgebot) Sachverhalt: §§9, 10BierStGschreibenvor,dassinDeutschland in VerkehrgebrachtesBier nach dem deutschen Reinheitsgebot, also nur aus Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser, hergestellt werden muss. Anders produzierte Getränke dürfen nichtunterderBezeichnung„Bier“verkauftwerden. Belgische Bierbrauer, die ihre Produkte auch in Deutschland als „Bier“ verkaufen wollen, sehen hierin eine Verletzung der unionsrechtlich garantiertenWarenverkehrsfreiheit. ZuRecht? Bearbeitervermerk:Unionsgrundrechtesindnichtzuprüfen. Lösung: DasdeutscheReinheitsgebotgem.§§9, 10BierStGkönntegegendie Warenverkehrsfreiheit nachArt.34AEUVverstoßen. I.Schutzbereich ZunächstmüsstendersachlicheundderpersönlicheSchutzbereicheröffnetsein. 1.SachlicherSchutzbereich DamitdersachlicheSchutzbereicheröffnetist,dürfenkeinevorrangigensekundärrechtlichen Regelungeneinschlägigsein(a),esmusseingrenzüberschreitenderSachverhaltvorliegen(b), es muss der Handel mit einer „Ware“ betroffen sein (c) und es dürfen keine BereichsausnahmenoderanderenSonderregelneinschlägigsein(d). a)SekundärrechtlicheRegelungensindnichtersichtlich. b) Im vorliegenden Fall soll in Belgien hergestelltes Bier nach Deutschland importiert und dort als „Bier“ verkauft werden. Es handelt sich folglich um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt. 1
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c) Waren sind körperliche Gegenstände, die einen Handelswert haben und im Hinblick auf Handelsgeschäfte über eine Grenze verbracht werden können. Bei Bier handelt es sich um eineWare. d)BereichsausnahmenoderSonderregelungensindnichtersichtlich. DersachlicheSchutzbereichisteröffnet. 2.PersönlicherSchutzbereich JedePerson,dieeinInteresseander DurchsetzungderWarenverkehrsfreiheithat,kannsich auf sie berufen, ohne selbst bestimmte Anforderungen zu erfüllen. Die Warenverkehrsfreiheit knüpft allein an die Herkunft der Ware („Unionsware“) an, siehe Art.28 Abs. 2 AEUV, die innerhalb der EU zirkuliert. Um eine solche ging es hier. Bei den belgischen Bierbrauern handelt es sich um Unternehmen. Auch diese unterfallen dem persönlichen Schutzbereich der Norm, da sie gem. Art.54 Abs.2 AEUV (in entsprechender Anwendung)dennatürlichenPersonengleichgestelltwerden. DerSchutzbereichderWarenverkehrsfreiheitistfolglicheröffnet. II.Eingriff IndiesenSchutzbereichmüssteDeutschlanddurchdasReinheitsgebotgem.§§9,10BierStG eingegriffenhaben.Ein Eingriffliegtvor,wennein Adressatder Warenverkehrsfreiheiteine mengenmäßige Ein‐ oder Ausfuhrbeschränkung oder eine Maßnahme gleicher Wirkung erlässt. 1.AdressatderWarenverkehrsfreiheit Deutschland ist als Mitgliedstaat der EU Adressat der Warenverkehrsfreiheit, vgl. Art. 52 Abs.1EUV. 2.ErfassteMaßnahme a)MengenmäßigeEin‐/Ausfuhrbeschränkung Eine mengenmäßige Ein‐ und Ausfuhrbeschränkung, also eine Maßnahme, mit der die Ein‐ oderAusfuhreinerWarevollständigverboten (Verbringungsverbot)odernach Menge,Wert oderZeitraumbegrenztwird(Kontingent),liegtnichtvor. b)MaßnahmegleicherWirkung Möglicherweise handelt es sich bei dem Reinheitsgebot gem. §§9, 10 BierStG um eine MaßnahmegleicherWirkung. 2
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NachderDassonville‐Formelhandeltessichbeijeder HandelsregelungderMitgliedstaaten, die geeignet ist, den innerunionalen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern, um eine Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um die Diskriminierung eingeführter Waren oder um eine unterschiedslose Anwendung auch auf in‐ und ausländische Waren handelt.VielmehristvoneinemumfassendenBeschränkungsverbotauszugehen. Durch das deutsche Gesetz wird die Verkehrsfähigkeit des in Belgien produzierten Bieres aberkannt. Die Anwendung des §10 BierStG auf Bier aus anderen Mitgliedstaaten, zu dessen HerstellungrechtmäßigerweiseandereGrundstoffealsGerstenmalzverwendetwordensind, kann die Einfuhr dieses Biers in die Bundesrepublik Deutschland behindern. Denn um das Produkt in Deutschland in den Handel zu bringen, muss entweder das Bier nach den deutschenVorschriftenhergestelltwerdenodereineandereBezeichnungals „Bier“geführt werden.BeideswürdedasIn‐Verkehr‐BringendesProduktesinDeutschlanderschweren.Es handeltsichbei§§9, 10BierStGfernernichtumeinebloßeVerkaufsmodalitäti.S. derKeck‐ Formel,sondern dieVorschriftentreffeneine produktbezogeneRegelung, die jedenfallsden Marktzugang beschränkt. Bei dem Reinheitsgebot handelt es sich folglich um eine MaßnahmegleicherWirkungwieeinemengenmäßigeBeschränkung. III.RechtfertigungdesEingriffs MöglicherweisekanndieserEingriffjedochgerechtfertigtwerden. 1.Rechtfertigungsgrund(„Schranke“) EsmüssteeinRechtfertigungsgrundvorliegen. a)GeschriebeneRechtfertigungsgründe,Art.36AEUV MöglicherweisekommtderGesundheitsschutz ausArt.36AEUVals Rechtfertigungsgrundin Betracht.ZwarstelltnachdenVorgabenvon§§9,10BierStGhergestelltesBiergrundsätzlich keine Gesundheitsgefahr dar; jedoch gilt dies gleichermaßen für Bier unter Verwendung anderer–nichtgesundheitsschädlicher –Zutaten.JedenfallssindauchandereMaßnahmen denkbar,diegleichgeeignetzurSicherungdesGesundheitsschutzessind,aberBierhersteller weniger stark beeinträchtigen (z.B. das Verbot einzelner Inhaltsstoffe statt des jetzigen GebotsderVerwendungbestimmterStoffeoderEtikettierungspflichten).Somitkommt der GesundheitsschutznichtalsRechtfertigungsgrundinBetracht. b)UngeschriebeneRechtfertigungsgründe(immanenteSchranken) Es könnten jedoch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe, sog. „immanente Schranken“ anwendbarsein. 3
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InErmangelungeinerunionsrechtlichenRegelungderHerstellungundVermarktungvonBier istesSachederMitgliedstaaten,alledieHerstellungundVermarktungvonBierbetreffenden Vorschriften für ihr Hoheitsgebiet zu erlassen. Dabei müssen sie zwar die Grundfreiheiten achten, jedoch müssen nach der Cassis‐Rechtsprechung des EuGH Hemmnisse für den Binnenhandel, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen über die Vermarktung dieser Erzeugnisse ergeben, hingenommen werden, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden, insbesondere den Erfordernissen einer wirksamen steuerlichen Kontrolle, des Schutzes der öffentlichenGesundheit,derLauterkeitdes Handelsverkehrs unddes Verbraucherschutzes. Diese Aufzählung ist nicht abschließend – vielmehr können auch andere zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses einen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit rechtfertigen.Ausgeschlossensindleidglichreinwirtschaftliche(protektionistische)Gründe. Hier könnten zwingende Erfordernisse des Verbraucherschutzes einschlägig sein. Die deutschenVerbraucherverbindenmitderBezeichnung„Bier“ einGetränk,dasnur ausden in§9BierStGaufgeführtenGrundstoffenhergestellt ist.DurchdieVorschriftsoll vermieden werden, dass die Verbraucher über die Art des Erzeugnisses getäuscht werden, indem die Vorstellunggewecktwird,einbestimmtesals„Bier“bezeichnetesGetränk entsprächedem Reinheitsgebot,obwohldiestatsächlichnichtderFallist.DerVerbraucherschutz kommtals RechtfertigungsgrundinBetracht. c)Unionsgrundrechte Unionsgrundrechtesindnichtzuprüfen. [Hinweis:Hierwäre–beiFehlendesBearbeitervermerks–andieAnwendungderArt.15‐17 GrCzudenken.] 2.„Schranken‐Schranken“ a)Unionsgrundrechte Unionsgrundrechtesindnichtzuprüfen. [Hinweis:HierwäreandieAnwendungderArt.35,38GrCzudenken.] b)GrundsatzderVerhältnismäßigkeit Das mit der Regelung verfolgte Ziel muss in angemessenem Verhältnis zum Eingriff in die Warenverkehrsfreiheitstehen.DerVerbraucherschutzstellteinlegitimesZieldar. DasReinheitsgebotmüsste zur ErreichungdiesesZielsauchgeeignetsein. Zwarerlaubtdie Regelung in §§9, 10 BierStG den Verbrauchern, Gewissheit über die zur Herstellung des 4
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Biers verwendeten Inhaltsstoffe zu erlangen, und verhindert somit eine Täuschung. GrundsätzlichistdieRegelungzurGewährleistungdesVerbraucherschutzesdahergeeignet. Allerdings ist fraglich, ob das Reinheitsgebot tatsächlich auch erforderlich ist. Dies ist der Fall, wenn keine zur Sicherung des Zwecks gleich geeigneten, aber milderen Mittel in Betrachtkommen.HiersindmehrereGesichtspunktezuberücksichtigen. Erstens können sich die Vorstellungen der Verbraucher, die von einem Mitgliedstaat zum anderenunterschiedlichseinkönnen,auch innerhalbeines MitgliedstaatsimLaufederZeit fortentwickeln.DieEinführungdesBinnenmarktesistdabeieinerderwesentlichenFaktoren, die zu einer solchen Entwicklung beitragen können. Während grundsätzlich eine Regelung zum Schutz der Verbraucher gegen Irreführungen die Berücksichtigung einer solchen Entwicklung zulässt, wird dies durch eineRegelung wie §10 BierStG verhindert.Das Recht eines Mitgliedstaats darf nicht dazu dienen, die gegebenen Verbrauchergewohnheiten zu zementieren, um einer mit deren Befriedigung befassten inländischen Industrie einen erworbenenVorteilzubewahren. Zweitens kann den Verbrauchern, die aus bestimmten Grundstoffen hergestelltes Bier konsumierenmöchten, aufandereWeisedie Möglichkeitgegebenwerden,ihreWahlunter diesemGesichtspunktzutreffen. Dieskannbeispielsweise durchdieVerpflichtungzueiner angemessenen Etikettierung hinsichtlich der Art des verkauften Bieres erfolgen. Durch die Angabederbei derBierherstellungverwendetenGrundstoffewürde derVerbraucherindie Lage versetzt, seine Wahl in Kenntnis aller Umstände zu treffen. Jedoch dürfte eine solche KennzeichnungsregelungkeinenegativenEinschätzungenfürBierzurFolgehaben, dasden Anforderungendes§9BierStGnichtentspricht.EinesolcheEtikettierungspflichtwäregleich geeignet, den Verbraucherschutz zu gewährleisten, und stellt sich für die von §§9, 10 BierStGbetroffenenBierbrauerund‐händleralsmilderesMitteldar.Folglichistdiein§§9, 10 BierStG zu Sicherung des Verbraucherschutzes nicht erforderlich und nicht verhältnismäßig. DerEingriffistdahernichtgerechtfertigt. IV.Ergebnis DurchdasdeutscheReinheitsgebotfürBiergem.§§9, 10BierStGverletzt Deutschlanddie WarenverkehrsfreiheitnachArt.34AEUV.
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