Wassily Kandinsky und das Geistige in der Kunst PDF

Title Wassily Kandinsky und das Geistige in der Kunst
Course Kunst
Institution Leuphana Universität Lüneburg
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Leuphana Universität Lüneburg SS 2020 [13202] Bild und Einbildung. Zur Geschichte der Bildbetrachtung Dozentin: Dr. Mimmi Woisnitza

Wassily Kandinsky und das Geistige in der Kunst

Ilona Hammoud 3038530, [email protected] Major Kulturwissenschaften, Kunst- und Medienwissenschaft, 2. Semester 15. September 2020

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung...........................................................................................................................1 2. Avantgarde, ihre Ziele und Bestrebungen..........................................................................2 3. Wassily Kandinsky und seine künstlerisch-theoretischen Konzepte.................................3 3.1. Das Innere und das Äußere in Kandinskys Werken und das „Prinzip der internen Notwendigkeit“...................................................................................................................4 3.2. Punkt und Linie...........................................................................................................4 3.3. Farbsymbolik...............................................................................................................5 3.4. Das Kunstwerk als Ganzes..........................................................................................6 4. Wahrnehmung von Kandinskys Werk von dem Betrachter...............................................7 4.1. Beispiele von Kandinskys Werken..............................................................................8 4.1.1. „Improvisation 7“ (1910)......................................................................................8 4.1.2. „Farbstudie – Quadrate und konzentrische Ringe“ (1913)...................................8 4.1.3. „Malen mit grüner Miete“ (1913).........................................................................9 4.1.4. „Komposition VII“ (1913)....................................................................................9 4.1.5. „Komposition VIII“ (1923)...................................................................................9 4.1.6. „Gelb-Rot-Blau“ (1925).....................................................................................10 5. Fazit..................................................................................................................................10 Literaturverzeichnis..............................................................................................................12 Bildnachweis........................................................................................................................13 Anhang.................................................................................................................................14

1. Einleitung Ein Kunstwerk ist ein Produkt des historischen Entwicklungsstandes der Kultur. Das künstlerische Bild als ganzheitliches Lebensmodell wird durch die soziale Realität erzeugt, die soziale Realität wird dabei kritisch und als nicht ideal wahrgenommen. Eine solche widersprüchliche Erfahrung wird mithilfe verschiedener künstlerischer Mittel ausgedrückt. Der Künstler spricht bewusst und unbewusst seine Rezipienten an – Leser, Zuschauer, Zuhörer. Die Avantgarde entstand aus dem Interesse an neuen sozialen Prozessen. Die avantgardistische Bewegung zerstörte die Einstellung zur Tradition, zum Stil als Dogma, als eine unerschütterliche Regel. Die Avantgardisten begannen, künstlerische Mittel frei einzusetzen. In seinen theoretischen Werken „Über das Geistige in der Kunst“ (1910), „Rückblick“ (1913), „Punkt und Linie zu Fläche“ (1926) entwickelt und formuliert der bekannte russische Maler Wassily Kandinsky die Gesetze der abstrakten Malerei. Der Künstler betont, dass es notwendig ist, beim Betrachter die Fähigkeit zu erwecken, das Geistige in abstrakten Formen und Farben zu sehen (vgl. Düchting 2000: 38). So begründet Kandinsky theoretisch ein neues Prinzip einer der Richtungen der Avantgarde – abstrakter Kunst. Damit richtet er den Betrachter auf das Verständnis einer neuen Art gegenstandslosen Denkens in der Kunst. Aber Kandinsky zwingt es dem Betrachter nicht auf, sondern verwebt es allmählich durch das künstlerisch-theoretische Konzept der formulierten Gesetze, die in den Werken des Künstlers durch ein Prisma gebrochen werden, das der Natur menschlicher Gefühle nicht widerspricht, da es auf dem Phänomen der assoziativen Erfahrung beruht. Es ist assoziative Erfahrung, die hilft, sich in den unbekannten Symbolen von Kandinskys abstrakter Malerei nicht zu verlieren. Eine große Rolle für das Verständnis seiner Bilder spielen auch seine theoretischen Werke, die die Bestrebungen des Malers weitgehend erklären. Kandinsky, der die „geistige Wendung“ (Kandinsky 1912: 33) in der Kunst vorwegnimmt, erläutert seine Sicht auf den Fortschritt in diese Richtung. Es ist ein Prozess, der nicht von alleine abläuft. Dies ist eine aufwendige Arbeit, eine große Verantwortung sowohl des Künstlers als auch des Betrachters. Die Aufgabe des Künstlers ist es, nach dem „Prinzip der inneren Notwendigkeit“ (ebd.: 49) zu suchen, dem zuzustimmen und mit Ausdrucksmitteln das Ziel zu erreichen – die feineren Vibrationen der menschlichen Seele zu verursachen (vgl. ebd.: 54). Die Aufgabe des Betrachters besteht wiederum darin, in sich die Reinheit der Wahrnehmung zu entdecken, die auf dieser Ebene nicht mehr mit der Schönheit der Natur korreliert. Die ideale Nachahmung der Natur als Höhepunkt der bildenden Kunst gehört der Vergangenheit an. Impressionistische Eindrücke, expressionistische Emotionen, kubistische Experimente – all diese Phasen sind vorbei und nun ist es die Aufgabe des Betrachters, die Schönheit von reiner Farbe und reiner Form zu sehen. Kandinsky antizipiert die Geburt der abstrakten Kunst als die reinste Kunst in Bezug auf die Auswirkungen auf die menschliche Seele und blickt optimistisch in die Zukunft, um die bevorstehende Geburt einer neuen spirituellen Ära vorauszusehen. So beginnt Kandinsky nach Wegen zu suchen, um den Betrachter geistlich zu beeinflussen. In der vorliegenden Arbeit wird versucht festzustellen, mithilfe welcher malerischen Mittel der Künstler diese Aufgabe erfüllt und wie seine abstrakte Malerei von dem Betrachter wahrgenommen wird. Für das bessere Verständnis der Richtung Kandinskys Werke gibt das zweite Kapitel der Arbeit einen kurzen Überblick über die avantgardistische Kunst und der dritte Kapitel beschäftigt sich mit den künstlerischen und theoretischen Konzepten des Künstlers. Im vierten Kapitel wird es auf die Besonderheiten der Wahrnehmung von Kandinskys Bildern eingegangen, indem einige seiner Gemälde näher betrachtet werden. Am Schluss wird eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse vorgestellt. 1

2. Avantgarde, ihre Ziele und Bestrebungen Wie die vorangegangenen Kunstrichtungen der Moderne zielte die Avantgarde auf eine radikale Transformation des menschlichen Bewusstseins mittels Kunst ab, auf eine ästhetische Revolution, die die geistige Trägheit der Gesellschaft zerstören würde (vgl. Dittmann 1995: 124). Ihre künstlerische Strategie und Taktik waren aber viel entscheidender und anarchistisch-rebellischer. Avantgardistische Phänomene sind grundsätzlich charakteristisch für alle Übergangsphasen in der Kunstgeschichte. Im 20. Jahrhundert erhielt das Konzept der Avantgarde jedoch die Bedeutung eines Begriffs, der eine mächtige Erscheinung der künstlerischen Kultur bezeichnet, die fast alle mehr oder weniger bedeutenden Phänomene umfasste. Bei aller Vielfalt der in diesem Konzept enthaltenen künstlerischen Phänomene haben sie gemeinsame kulturelle und historische Wurzeln, eine gemeinsame Atmosphäre, aus der sie hervorgegangen sind, und viele gemeinsame Merkmale und Tendenzen der Präsentation. Die Avantgarde ist zuallererst die Reaktion des künstlerischen und ästhetischen Bewusstseins auf ein globales, noch nicht in der Geschichte der Menschheit anzutreffendes Wendepunkt in kulturellen und zivilisatorischen Prozessen, die durch den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt des letzten Jahrhunderts verursacht wurden (vgl. Zavarihin 1997). Die charakteristischen und gemeinsamen Merkmale der meisten AvantgardePhänomene sind ihr experimenteller Charakter, revolutionäres und destruktives Pathos in Bezug auf traditionelle Kunst und traditionelle kulturelle Werte, ein scharfer Protest gegen alles, was ihren Vertretern als rückläufig, konservativ, bürgerlich, akademisch erschien. In der bildenden Kunst ging es um eine demonstrative Ablehnung des im 19. Jahrhundert etablierten realistisch-naturalistischen Bildes der sichtbaren Realität, uneingeschränktes Bestreben, in allem und vor allem in den Formen, Techniken und Mitteln des künstlerischen Ausdrucks grundlegend Neues zu schaffen (vgl. ebd.). Die Suche der Avantgarde nach neuen künstlerischen Ausdrucksmitteln führte zur Schaffung eines künstlerischen Bildes, das sich nach der aktiven Wahrnehmung des Betrachters richtet. Dem Rezipienten wurde eine niedagewesene Interpretationsfreiheit eingeräumt. Ein Kunstwerk bot die Freiheit der Wahrnehmung des künstlerischen Bildes, der Mitschöpfung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam es in der Kunst nicht nur zu einer Veränderung der Bildund Ausdruckssprache, sondern auch zu einer deutlichen Bedeutungsverschiebung, die es ermöglichte, den Menschen auf neue Weise zu sehen und zu verstehen (vgl. ebd.). Ethische Suchen, moralische Erfahrungen werden zu einem unabdingbaren Thema des Werkes russischer Künstler und Kunsttheoretiker. Dieses Merkmal wurde erneut von Anthony Kenny gezeichnet, als er versuchte, sich auf die Darstellung der Originalität der russischen Kunstkultur zu konzentrieren (vgl. Kenny 2008: 263ff). Suche nach der Moral ist wichtig für viele Menschen. Bei der Lösung widersprüchlicher Lebensprobleme orientiert sich man auf ethische Werte, die ihn leiten. Allgemeingültige ethische Dilemmata können von einem Künstler ausgedrückt werden. Das Interesse avantgardistischer Künstler konzentrierte sich nicht auf den sozialen Status des Menschen, nicht auf die äußeren Realitäten seines Lebens, sondern auf sein inneres Wesen. Künstler waren sich bewusst, dass es in jedem Phänomen Sichtbares, Äußeres, Gefühltes, Verständliches gibt, aber es gibt auch eine unsichtbare, innere, verborgene Bedeutung, die für die Vernunft unzugänglich ist. Das Unsichtbare in der bildenden Kunst führt zum Verständnis der verborgenen Bedeutung. Es wird eine kreative Methode benötigt, die mithilfe des Unsichtbaren das Denken anregt und diese verborgene Bedeutung zeigt. 2

3. Wassily Kandinsky und seine künstlerisch-theoretischen Konzepte Als Theoretiker schlug Kandinsky eine Reihe neuer Ideen über das Sichtbare und das Unsichtbare vor, über das Geistige, das in einem künstlerischen Bild verkörpert wird. Die Malerei wurde bis auf die metaphysischen Grundlagen durchdacht. Wie bereits oben erwähnt schrieb der Maler drei theoretische Hauptwerke „Über das Geistige in der Kunst“, „Rückblick“, „Punkt und Linie zu Fläche“ und außerdem viele Artikel. In seinen Werken bemühte er sich, die Synthese von Ethik und Ästhetik zu verwirklichen. Diese Idee ist von zentraler Bedeutung für die künstlerischen Werke und die theoretischen Grundlagen von Kandinsky. Das Konzept des so genannten „geistigen Dreiecks“ (Kandinsky 1912: 20), das er in seinem Buch „Über das Geistige in der Kunst“ skizzierte, ist ein Bild des gesamten geistigen Lebens der Gesellschaft. Einer der mächtigsten Faktoren im geistigen Leben ist die Kunst, die zur Bewegung der Kultur vorwärts und aufwärts beiträgt (vgl. ebd.: 9). Die Mission, die dem Künstler in diesem Dreieck anvertraut wird, ist es, „das geistige Brot“ (ebd.: 12) zu geben, daher trägt er eine dreifache Verantwortung im Vergleich zu einem Nichtkünstler. „[…]und die Kunst im ganzen ist nicht ein zweckloses Schaffen der Dinge, die im leeren zerfließen, sondern eine Macht, die zweckvoll ist, und muß der Entwicklung und Verfeinerung der menschlichen Seele dienen – der Bewegung des Dreiecks“ (ebd.: 116f.). Die hier von Kandinsky zum Ausdruck gebrachte Hauptidee ist, dass der Künstler lernen muss, sich selbst zu erziehen, zunächst die Seele zu kultivieren und zu entwickeln, „damit sein äußeres Talent etwas zu bekleiden hat und nicht, wie der verlorene Handschuh von einer unbekannten Hand, ein leerer zweckloser Schein einer Hand ist“ (ebd.: 118). Nur durch die moralische Vervollkommnung des Künstlers selbst, sein Streben nach ethischen Idealen ist es möglich, wahre Kunstwerke zu schaffen. Der Künstler verwendete das dialektische Begriffspaar „reine Realistik“ und „reine Abstraktion“ (ebd.: 110), um zwei Tendenzen in der Entwicklung der zeitgenössischen Kunst zu beschreiben. Bei der Schaffung eines Kunstwerks war Kandinsky daran interessiert, nicht ein äußeres, sondern ein inneres Bild zu schaffen. Jede Kulturperiode schafft ihre eigene Kunst, die den Menschen geistige Nahrung (vgl. ebd.: 13) gibt und die Seele Richtung geistiger Entwicklung führt. Kunst entwickelt sich in der Kultur, die treibende Kraft der Kunst ist das Geistige. Der Sinn der Kunst ist laut Kandinsky die Geistigkeit, die die Suche nach neuen Mitteln erfordert. Jede Art von Kunst hat ihre eigenen Ausdrucksmittel – Wort, Ton, etc. Für die Malerei identifizierte Kandinsky u. a. Farbe als das Hauptelement (vgl. ebd.: 34). Farbe wird von dem Menschen visuell wahrgenommen. Aber hinter der Farbe, die das Auge wahrnimmt, steckt eine geistige Essenz, ein innerer Klang. Für den Künstler hatte Farbe viele Bedeutungen, sogar eine Klangfärbung (vgl. ebd.: 45). Wenn die Malerei einen aufgelösten Gegenstand verwendet, zwingt solche Auflösung des Gegenstands den Betrachter, das Bild zu betreten, so dass er sich darin auch auflöst (vgl. ebd.: 28f.). Die Gegenständlichkeit des Bildes beeinträchtigt die Wahrnehmung des Betrachters, so dass sich der Künstler von der Gegenständlichkeit entfernen muss. Kandinsky überschreitet die Grenze der sichtbaren Realität, er wendet sich an die Abstraktion, weil die Abstraktion dem Künstler mehr Freiheit gibt und so den Geist hörbar macht. Das Werk existiert abstrakt noch vor seiner Schaffung, Verkörperung. Abstraktion bietet eine Vielzahl von Ausdrucksmitteln für die bildende Kunst. Kandinsky bemüht sich, die ursprüngliche Form zu zeigen, indem er sie von allen ihr auferlegten Bedeutungen befreit. Die auf ein Minimum reduzierte Gegenständlichkeit ermöglicht die Offenbarung des Realen in der Abstraktion. Mit primären geometrischen Formen, Mitteln der reinen Malerei – einer Linie, einem Punkt, einem Quadrat, einem Dreieck sowie verschiedenen Farben in ihren abstrakten Konstruktionen strebt Kandinsky, das Aufeinandertreffen von 3

dem Materiellen und dem Geistigen zu zeigen und Raum für die Entfaltung des Geistigen zu schaffen. Der Maler betonte die Bedeutung von Spontanität und Unlogik für die Kreativität. Dem Künstler wird uneingeschränkte Freiheit bei der Auswahl der Mittel zur Äußerung bestimmter Inhalte eingeräumt. Diese Freiheit sollte jedoch auf dem Prinzip der „inneren Notwendigkeit“ beruhen. Dieses Prinzip ist eines der zentralen Konzepte in Kandinskys Theorie und bedeutet das Prinzip der zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele (vgl. ebd.: 49). Das bedeutet, dass ein Kunstwerk die menschliche Seele in einen so genannten Vibrationszustand versetzen soll. 3.1. Das Innere und das Äußere in Kandinskys Werken und das „Prinzip der internen Notwendigkeit“ In seinem Werk „Über das Geistige in der Kunst“ schreibt Kandinsky darüber, dass die Vergänglichkeit der Veränderungen in der Außenwelt dazu führt, nach etwas Stabilem in der Innenwelt zu suchen. Die Erfahrung, die Aufmerksamkeit von der Außenwelt auf die Innenwelt zu verlagern, ist ein alter philosophischer Schritt. Grundlage für eine solche Wende war für Kandinsky die allgemeine kulturelle Atmosphäre: „Wenn die Religion, Wissenschaft und Moral (die letzte durch die starke Hand Nietzsches) gerüttelt werden, und wenn die äußeren Stützen zu fallen drohen, wendet der Mensch seinen Blick von der Äußerlichkeit ab und zu sich selbst zu“ (ebd.: 26). Wenn Kandinsky schreibt, dass der Schwerpunkt der Kunst nicht im „praktischen“ Bereich liegt, sondern ausschließlich in inneren Bestrebungen (vgl. ebd.: 117), formuliert er die grundlegenden Aspekte der modernen Malerei. Die Fähigkeit, in das Innenleben der Kunst einzutauchen, ein außergewöhnliches inneres Streben, die Stärke des inneren Verlangens führen ihn zur Formulierung des „Prinzips der inneren Notwendigkeit“. Jedes Phänomen kann laut Kandinsky auf zwei Arten erlebt werden – äußerlich und innerlich. Dabei geht es um die Möglichkeit, die Grenzen, die sich der Mensch setzt, zu erweitern oder sie sogar zu überwinden. Diese Einstellung führt zum inneren Widerstand gegen alles Äußere, Oberflächliche, was sich in der Entgegenstellung der Begriffe „Zeichen“ und „Symbol“ manifestiert. Kandinsky vergleicht die Bedeutung des Zeichens mit der stillschweigenden Anwesenheit des Menschen auf der Welt. Das Symbol hingegen ist mit Ton gefüllt. Dies ist die Sprache selbst, die Bewegung, daher „[…] kann auch die neue Kunstwissenschaft nur dann entstehen, wenn die Zeichen zu Symbolen werden und das offene Auge und das offene Ohr den Weg vom Schweigen zum Sprechen ermöglichen“ (Kandinsky 1926: 20). Alle äußeren Umstände, selbst die tragischsten Erschütterungen, die von außen auf einen Menschen einwirken (Krankheit, Unglück, Krieg, Revolution) und ihn gewaltsam aus dem üblichen Lebensrhythmus herausreißen, ähneln der kalten Hülle eines Zeichens. Die Erschütterungen, die von innen kommen, sind von einer anderen Art, sie werden von dem Menschen selbst verursacht und ermöglichen es einem, sich vollständig dem inneren Erlebnis zu ergeben. 3.2. Punkt und Linie In den 1920er Jahren skizzierte Kandinsky seine künstlerische und theoretische Position auch im Buch „Punkt und Linie zu Fläche“. Darin versucht er, ein Wörterbuch zu schaffen, das seiner Meinung nach „in weiterer Entwicklung zu einer „Grammatik“ führen wird“ (ebd.: 77). Der Künstler untersucht Punkt und Linie als Hauptelemente der Malerei sehr umfassend und stellt fest: „Die beiden Elemente – Kreuzungen, Zusammenstellungen, die eine eigene „Sprache“ bilden, die durch Worte nicht erreichbar ist“ (ebd.: 106). Der Punkt ist ein ontologisches Symbol für den Künstler – „das Symbol der Unterbrechung, des Nichtseins (negatives Element), und zur selben Zeit ist er eine Brücke von einem Sein zum anderen (positives Element)“ (vgl. ebd.: 19). Der Punkt ist an der Grenze zwischen Sein und Nichtsein konzipiert und verbindet zwei Welten: die reale Welt 4

und die imaginäre Welt. Dies ermöglicht es, vom Punkt in der Malerei als einem ewig auftretenden Ereignis der Weltentstehung oder einem Ereignis der Werksentstehung zu sprechen, bei dem der Punkt einen Platz und eine Erscheinung im offenen Raum der Malerei erhält und das Sein mit dem Nichtsein verbindet. Außerdem wird dem Punkt eine anthropologische Bedeutung verliehen. Als ein energetisch gefülltes Element kann der Punkt Ausdruck von Zuständen auf der Leinwand sein. Je nach der Komposition des Bildes kann der Punkt schweigen oder sprechen (vgl. ebd.) Er kombiniert viele Funktionen und Bedeutungen: innerer Klang, Variabilität, Bestätigung, Zurückhaltung. Der Punkt kann auch die Zeit symbolisieren – ein kurzer Moment, er ist „die zeitlich knappste Form“ (ebd.: 29). Und schließlich bezieht sich der Punkt auf den Raum, nimmt einen bestimmten Platz darin ein und erzeugt die Linie. Kandinsky interessiert sich für natürliche und unnatürliche lineare Kompositionen. Für ihn sind sie von einer besonderen Harmonie erfüllt. Die Linie findet sich in vielen Naturphänomenen: in der Pflanzen-, Tier- und Mineralwelt. „Die Pflanze in ihrer ganzen Entwicklung vom Samen zur Wurzel (nach unten), bis zu dem sich ansetzenden Stamm (nach oben) geht vom Punkt zur Linie über […]“ (ebd.: 98f.). Die kompositorischen Naturgesetze eröffnen dem Künstler die Möglichkeit, die Kunstgesetze mit ihnen zu vergleichen: Dieser Standpunkt ist bis heute ausschließlich in der abstrakten Kunst deutlich geworden, da ihre Rechte und Pflichten erkannt hat und sich nicht mehr auf die äußere Schale der Naturerscheinungen stützt. […] es bleibt unmöglich, das Innere eines Reiches in das Äußere eines anderen restlos hineinzulegen (ebd.: 97f.). Die Analyse der drei Linientypen – die Horizontale, di...


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