Wolff und Medea-Mythos PDF

Title Wolff und Medea-Mythos
Author Ma ry
Course Einführung in die Literaturwissenschaften
Institution Technische Universität Dortmund
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„CHRISTA WOLF UND DIE FIGUR DER MEDEA: WAS REIZTE SIE AN DIESER MYTHISCHEN FIGUR?“ Ein Essay über die Motivation Christa Wolfs zur eigenen Rezeption des MedeaMythos vor dem Hintergrund autobiografischer Bezüge

Christa Wolf und die Figur der Medea: Was reizte Christa Wolf an dieser Figur?

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Der Mythos um die Figur Medea zieht sich durch die Jahrhunderte, von Euripides bis zur zeitgenössischen Literatur. Es ist eine Tragödie, festgemacht an einer Frau, die in ihrer Radikalität und ihrem Temperament ihresgleichen sucht. Bisher geht die Literaturwissenschaft von mehr als 300 Rezeptionen des MedeaMythos aus. Die Figur der Medea ist vermutlich deswegen so begehrt, weil sie den Inbegriff der Ambivalenz darstellt. Medea, als eine menschliche Frau, stammt neben dem hellen Helios ebenso von der dunklen Göttin Hekate ab und vereint damit gute wie auch böse Zauberkräfte. Sie ist einerseits eine bedingungslos Liebende, die andererseits den Liebesverrat an ihr mit ebenso bedingungsloser Rache straft. Vor den Argonauten erweist sie sich als eine herausragende Gastgeberin, die den Fremden beisteht, ist sie aber selbst eine Fremde in einem anderen Land und verbleibt als flüchtige, barbarische Wilde am Rande der Gesellschaft. Der Mythos wurde durch den Wandel der Zeit neu geformt und reicht mit seiner Aktualität bis in die Neuzeit. Wenn aber die Figur der Medea heute aktuell erscheint, dann im Zuge der Neudeutung nach Christa Wolf. Christa Wolf grenzt sich mit ihrer Medea von der seit 2500 Jahren vorherrschenden Präsenz als Kindesmörderin ab und macht aus einer Täterin ein Opfer ihrer Welt. In welchem Motiv aber begründet sich diese radikalste Veränderung der Medea, von einer blutrünstigen Mörderin hin zu einer Rebellin, die sich vielen Gefahren aussetzt, um das vorherrschende System zwar nicht zu stürzen, aber doch unterschwellig zu revolutionieren? Vor dem Hintergrund der eingearbeiteten autobiografischen Elemente lohnt es sich, genauer zu untersuchen, welche Motivation die ehemalige DDR-Bürgerin Christa Wolf hatte, sich gerade dieser Erzählung zuzuwenden und aus einer Täterin, die Mord an ihren eigenen Kindern begangen hat, ein Opfer ihrer Zeit und Lage zu machen. Vor der Neudeutung nach Wolf variieren die Darstellungen der Medea zwar in ihren Ausprägungen, sie bleibt aber weiterhin die fremde Barbarin, die verräterische Hexe, die Bruder- und Kindesmörderin und auch die rachsüchtige Geliebte, die in ihrem selbstbewirkten

Chaos

untergeht.

In

„Medea.

Stimmen“

werden

diese

zugesprochenen Charakterzüge als Gerüchte entlarvt, denn Wolf gibt ihrer Medea lediglich die Gestalt einer kräuterkundigen Priesterin und Heilerin, die ihre Zauberkünste nicht etwa willkürlich zu zerstörerischen und eigennützigen Zwecken, wohl aber zu Gunsten aller Menschen einsetzt. Ein weiterer wesentlicher Unterschied findet sich in den Fremdheitserfahrungen der Figurenkonstellation mit Medea als

Christa Wolf und die Figur der Medea: Was reizte Christa Wolf an dieser Figur?

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Zentrum: Während das Fremdheitsempfinden der übrigen Figuren in Bezug auf Medea eher nebensächlich behandelt werden, wird das Augenmerk auf die subjektiven Entfremdungserfahrungen der Protagonistin gelegt. Der 1996 veröffentlichte Roman ist die zweite Lektüre, neben „Kassandra“, von Christa Wolf, die sich mit einem griechischen Mythos auseinandersetzt. Sie begründet die Wahl einer mythischen Grundlage für ihren Roman damit, dass sich anhand von „weit zurückliegenden Figuren die zeitgenössischen Probleme besonders

deutlich

„unübertreffliche

herausfiltern“1

Modelle“

der

lassen.

Weiterhin

wiederkehrenden

gebe

Elemente

der

Mythos

menschlicher

Verhaltensmuster in der Gesellschaft vor, solche wie „Grundwidersprüche und Konflikte, Leidenschaften und Verfehlungen“2. Diese sinnstiftende Funktion, die die Autorin dem Mythos zuweist, führt zu einer Selbstreflexion bezüglich der eigenen Erfahrungen und erzeugt, wie auch im griechischen Drama, eine Selbsterkenntnis, die Katharsis. Der Leser erhofft sich im Verlaufe des Romans eine Katharsis, diese aber bleibt ihm versagt. Erfährt der Leser keine direkte seelische Reinigung, so führt dennoch diese tragisches Geschichte zu einer Eigenreflexion, die bei genauem Lesen (dem richtigem Verständnis) als Nachwirkung des Romans befreiend bzw. reinigend wirken kann. In ihrer eigenen Medea-Rezeption, die eine neue Interpretation der euripidischen Medea sein soll, hinterfragt Wolf viele der Handlungsmotive von Medea, sodass sich viele der wesentlichen Elemente des ursprünglichen Mythos gar nicht oder in stark abgewandelter Form vorfinden. Nicht aus blinder Liebe begeht Medea Verrat an ihrem Vater und die Flucht aus ihrer Heimat, sondern, weil die Stadt Kolchis hoffnungslos verdorben ist. Bei Wolf trägt nicht Medea die Schuld am Tod ihres Bruders, er kommt durch Zutun eines verbrecherischen Systems zu Tode. Auch trägt sie keine Mitschuld am Mord König Pelias, Jasons Vater. Ferner findet Glauke, ihre Nebenbuhlerin, nicht etwa durch Medeas Hochzeitsgeschenke den Tod, sondern begeht Suizid. Am Ende des Romans flüchtet sich Medea nicht nach Athen oder in das göttliche Reich, sie lebt als Verbannte in der Wildnis. Medea ist auch keine Kindesmörderin, denn eine Meute rachsüchtiger Korinther tötet ihre Kinder, während sie im Exil verharrt. Christa Wolf betont: „Wir haben uns in unserer Stoffwahl den

1

Wolf 1996: „Warum Medea?“ S. 251 Wolf 2007: Interview „Wir leben verkehrt“, S.5, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt/seite-5, letzter Aufruf am 19. 03.2016

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Christa Wolf und die Figur der Medea: Was reizte Christa Wolf an dieser Figur?

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Tabus nicht unterworfen“3 und zeigt damit auf, dass sie zwar auf Basis der euripidischen Medea gearbeitet hat, in ihrer eigenen Medea aber eine Geschichte erzählt, die nicht zur Unterhaltung dient, jedoch Licht auf aktuelle Probleme wirft und besonders die subjektive Sicht einer missverstandenen starken Frau als Medium ihrer Kritik verwendet. Diese Subjektivität findet sich auch in der Form des Romans wieder: Er wird von sechs „Stimmen“ erzählt, die jeweils als Personalerzähler berichten. Diese sechs sind Agameda, Akamas, Glauke, Jason, Leukon und Medea. Als konkretes Schreibmotiv führt Wolf weiterhin an, dass sie sich, wie auch in ihrem ersten

mythisch

basierten

Roman

„Kassandra“,

der

Frage

nach

„den

selbstzerstörerischen Tendenzen unserer abendländischen Zivilisation die umso verhängnisvoller werden, je mehr wir unsere Vernichtungswaffen vervollkommnen“4, stellt. Die gehärteten Fronten zweier deutscher Systeme, die sich besonders in den 80ziger Jahren anhand der beidseitigen militärisch atomaren Aufrüstung zeigt, ist sogar 1996 noch nicht ganz verarbeitet. In „Medea. Stimmen“ findet sich das Aufeinanderstoßen verschiedener Wertesysteme: Kolchis gilt zunächst als idealer Sozialstaat, vermutlich die DDR, und Korinth als Ort, deren Schicksal einen nicht berühren sollte5. Innerhalb der korinthischen Gesellschaft findet die Nicht-Akzeptanz der Werte der unterlegenen Gruppe, Medea und ihren treu Gebliebenen, statt, und zwar durch die sogenannte siegreiche Gruppe, den einheimischen Korinther mit Akamas an der Spitze. Die rezipierte Fremdartigkeit der geflüchteten Medea verhindert nicht den Heldenstatus, den Wolf ihrer Medea anhaftet. Sie ist eine Fremde aus dem barbarischen Kolchis und doch eine nicht erkannte Heldin, die beispielsweise das Überleben der Korinther während der Dürrezeit sicherstellt. Das Gefühl innerhalb der eigenen Gesellschaft fremd zu sein, verarbeitet Christa Wolf in ihrem Roman. Dieses Fremdheitsgefühl bleibt auch nach der Wiedervereinigung und dem Untergang der DDR bestehen. Sie spricht von einer „Erfahrung der neuen Entfremdung“, mit der viele DDR-Bürger nach der Vereinigung konfrontiert seien6. In der Wendezeit dominiert das Gesellschaftsbild der BRD, sodass auch Wolf als ehemalige DDR-Bürgerin unter dieser Behandlung leidet. So sagt sie selbst: „Ich habe das ganz persönlich erlebt.“7 Diese Entfremdung durchlebt auch ihre Medea in 3

Ebd.

4 Wolf

2007: Interview „Wir leben verkehrt“, S.2, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt/seite-2, letzter Aufruf am 19. 03.2016 5 Wolf 1996: „Medea. Stimmen“, S. 92, Z. 3f 6 Wolf 1987-2000: „Abschied von Phantomen. Zur Sache: Deutschland“, S. 530 7 Wolf 2007: Interview „Wir leben verkehrt“, S.2, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt/seite-2, letzter Aufruf am 19. 03.2016

Christa Wolf und die Figur der Medea: Was reizte Christa Wolf an dieser Figur?

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Korinth. Die verfehlte Integration findet sich schon bei Euripides und wurde von Christa Wolf mit besonderer Intensität rezipiert, mehr noch als die bloße Ausgrenzung erfährt Medea eine extreme reaktionäre und aktive Abwehr ihrer Person

und

ihres

selbstlosen

Engagement,

besonders

als

es

zu

einer

Wiedereinführung des Menschenopfers kommt. Neben diesem Aspekt der politischen Ebene des Romans befreit Wolf eine weitere weibliche Mythenfigur von Denunziationen, denen sie in einer patriarchalisch geprägten Kultur ausgesetzt war: „Bei Medea faszinierten mich besonders die Spuren, die der Jahrhunderte währende Übergang vom Matriarchat zum Patriarchat in diesem Mythos hinterlassen hat.“8 Christa Wolf bezweckt mit ihrer historischen Vorgehensweise9 nicht eine vollständige Aufklärung der verfälschten Interpretationen der Figur, sondern sie versucht sich an einer Neuerzählung der historische Realität. Abseits der bisherigen Konstruktionen, die den Mythos der Medea verformt haben, erzählt Wolf den ursprünglichen Mythos neu. Demnach versucht sie geringfügig matriarchatsnähere Ebenen des Medea-Mythos im Vergleich zu den bisherigen Rezeptionen zu beleuchten, denn letztendlich scheiterten die meisten der weiblichen Figuren: Medea wird verbannt, Glauke begeht Suizid und die Königin Merope schottet sich ab. Lediglich Agameda, die sich, wenn auch nur oberflächlich, den Männern beugt, verbleibt. Damit ist die Wiedereinsetzung eines Matriarchats in Korinth ausgeschlossen10. In „Medea. Stimmen“ erschafft Wolf mit Medea eine Rebellin, die nicht mehr Opfer eines Liebesverrates von Jason ist. Vorsätzlicher Rufmord zerstört ihre letzte Integrationsmöglichkeit, ihr Können als Heilerin. In dieser Abwandlung zeigt Wolf deutlich auf, dass nur äußere Faktoren die Heldin Medea stürzen können. Nach der vielen Kritik an Wolfs „Was bleibt“ verarbeitet die Autorin auch an dieser Stelle persönliche Erfahrungen. Im Gegensatz zu Kassandra überlebt Medea zwar den Angriff auf ihre Person, doch sie scheitert als Mutter, denn sie kann ihre Kinder nicht vor den Korinthern retten. Mit Medea als Opfer, nicht aber als Mörderin, hinterfragt Wolf hinterfragt das wesentliche Merkmal der Medeen: den Kindesmord. Die Autorin bezweifelt als erster Autorin die Richtigkeit dieser Darstellung und begründet dies wie folgt: „Mir war von Anfang an klar, dass sie ihre Kinder nicht umgebracht haben

8 Wolf 2007: Interview „Wir leben verkehrt“, S.5, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt/seite-5, letzter Aufruf am 19. 03.2016 9 Wolf 2001: Medea. Stimmen, Voraussetzungen zu einem Text 10 Vgl. Wolf 1996: „Medea. Stimmen“, S. 93, Z. 29 – S. 94, Z. 8

Christa Wolf und die Figur der Medea: Was reizte Christa Wolf an dieser Figur?

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konnte, weil zu Medeas Zeiten die Erinnerung an matriarchale Strukturen noch nachwirkte, in denen Kinder das kostbarste Gut waren.“11 Demnach war es auch ein Anreiz für die Christa Wolf als Mutter die Absurdität um die Kindesmörderin zu lüften. Sie selbst sieht die Ursache dieser Dämonisierung der Medea durch das Patriarchat darin, dass „Angst vor der Frau, die Leben geben kann.“12, vorherrscht. Erneut zeigt sich die Aktualität des Mythos, denn diese Angst „prägt die heutige Welt, die eine Männerwelt ist auch, wenn immer mehr Frauen mitherrschen.“13 Die Protagonistin als fremde Frau wird zunehmend auch ein Sündenbock für das Volk von Korinth. So wird Medea beispielsweise für das Erdbeben, welches Korinth am Ende des Romans heimsucht, und den Ausbruch der Pest zu Unrecht verantwortlich gemacht. Die Vergangenheit und ihre für die Korinther unglaubwürdigen Fluchtmotive holen sie wieder ein. Wolf konzipiert ihren Roman in dieser Art, um der Abwehr von Fremden und dieser irrationalen Schuldzuweisung einen „Fortschritt der Humanität“14 entgegenzusetzen. Medea gibt der politisch denkenden und schreibenden Autorin durch ursprüngliche menschlich bestimmte Handlungsmotive Potenzial zu einem Appell an den Leser, Vorurteile zu hinterfragen und sich nicht bevormunden zu lassen. Christa Wolf macht mit ihrer Neudeutung des Medea-Mythos aus einer triumphalen Kindesmörderin eine scheiternde Rebellin, die sich gegen die patriarchalische Willkür und

Fremdbestimmung

auflehnt.

Die

Autorin

bewegt

neben

persönlichen

Einstellungen und den eigenen Erfahrung auch Gefahr der Selbstzerstörung des Menschen, die bereits in der ursprünglich rachsüchtigen Medea göttlichen Ursprungs steckt. Als Feministin und ehemalige DDR-Bürgerin versucht Wolf die Bedrohungen eines männerdominierenden Systems aufzuzeigen, ohne dabei diktatorische Systeme zu verurteilen. Mit Medea oder Merope an der Macht wäre Korinth eventuell nicht untergegangen. Als Kind ihrer Zeit formt Christa Wolf die Medea zu einer gescheiterten Heldin, die in Isolation und Elend verharrt und zeigt, dass es bei einem Menschen allein nicht bleiben kann, um Veränderungen durchzusetzen.

11

Wolf 2007: Interview „Wir leben verkehrt“, S.2, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt/seite-2, letzter Aufruf am 19. 03.2016 12 Wolf 2007: Interview „Wir leben verkehrt“, S.6, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt/seite-6, letzter Aufruf am 19. 03.2016 13 Ebd. 14 Wolf 2007: Interview „Wir leben verkehrt“, S.2, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt/seite-2, letzter Aufruf am 19. 03.2016

Christa Wolf und die Figur der Medea: Was reizte Christa Wolf an dieser Figur?

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LITERATURVERZEICHNIS Finger, Evelyn (2007): „Wir leben verkehrt“ – Ein Interview mit Christa Wolf, http://www.zeit.de/2007/44/Wir_leben_verkehrt, zeit online, abgerufen am 18. März 2016. Wolf, Christa (2001): Abschied von Phantomen - Zur Sache: Deutschland, in: Essays, Gespräche, Reden, Briefe 1987–2000. Werke Bd. 12, Luchterhand, S. 530 Wolf, Christa (2001): Essays, Gesprache, Reden, Briefe 1987 –2000. Werke Bd. 12. Hrsg. V. Sonja Hilzinger, München, Luchterhand. Wolf, Christa (1996): Medea. Stimmen, 8. Auflage, Frankfurt am Main. Wolf, Christa (2001): Medea. Stimmen, Voraussetzungen zu einem Text. Werke Bd. 11. Hrsg. v. Sonja Hilzinger, München: Luchterhand. Wolf, Christa (1999): Von Kassandra zu Medea, in: Wolf, Christa (Hrsg.): Hierzulande. Andernorts. Erzählungen und andere Texte 1994–1998. München, Luchterhand. S. 158–168. Wolf, Christa (2000): Warum Medea? Christa Wolf im Gespräch mit Petra Kammann am 25. 01. 1996., in: Medea. Stimmen, Voraussetzungen zu einem Text. Werke Bd. 11, München, S. 251. ....


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