§ 2 Was ist Recht PDF

Title § 2 Was ist Recht
Course Einführung in die Wirtschaftswissenschaften
Institution Universität Augsburg
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was ist recht...


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Prof. Dr. Josef Franz Lindner Rechtsphilosophie und Rechtstheorie § 2 Was ist Recht?

§ 2 Was ist Recht? Gliederung: I. Der Begriff des Rechts II. Art. 20 Abs. 3 GG: „Gesetz und Recht“ III. Abgrenzung des Rechts von anderen Normsystemen IV. Literatur

„Noch suchen die Juristen eine Definition zu ihrem Begriff vom Recht.“ (Immanuel Kant)

I. Der Begriff des Rechts 1. Unübersehbare Vielfalt an Definitionen (Auswahl) - „Das Recht ist teils Natur-, teils Gesetzesrecht. Das Naturrecht hat überall dieselbe Kraft der Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nichtzustimmung der Menschen. Beim Gesetzesrecht ist es ursprünglich ohne Bedeutung, ob es so oder anders geregelt wird; wenn es aber festgelegt ist, dann ist es verbindlich …“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, 4. Jahrhundert v. Chr.) - „Recht leitet seinen Namen von der Gerechtigkeit her: Denn Recht ist, wie Celsus trefflich definiert, die Kunst 1

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des Guten und Billigen“ (Ulpian, Corpus Juris Civilis, Vol. 1, Digesta 1.1.)

- „Im Begriff des Gesetzes ist erstens eingeschlossen, dass es vom natürlichen Gesetz abgeleitet ist; zweitens, dass es auf das allgemeine Gute gerichtet ist; und drittens, dass es von demjenigen festgelegt wird, der die staatliche Gemeinschaft regiert“ (Thomas von Aquin, Summa theologica; 13. Jahrhundert) - „Recht ist der Inbegriff derjenigen Bedingungen, unter

denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797) - „Normen oder Regeln sind Befehle“ (J. Austin, 1790-1859) - „Der vom Staat in Vollzug gesetzte Zwang bildet das

absolute Kriterium des Rechts, ein Rechtssatz ohne Rechtszwang ist ein Widerspruch in sich selbst, ein Feuer, das nicht brennt, ein Licht das nicht leuchtet“ (Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht, 1893)

- „Recht ist die Wirklichkeit, die den Zweck hat, der Rechtsidee (Gerechtigkeit) zu dienen“ (Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932)

- „Recht im juristischen Sinne ist im allgemeinen alles, was Menschen, die in irgend welcher Gemeinschaft miteinander leben, als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig anerkennen“ (Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 1894) 2

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- „Recht ist die soziale Lebensordnung eines zentral or-

ganisierten gesellschaftlichen Großintegrats, sofern diese Ordnung sich auf einen von besonderen Organen monopolistisch gehandhabten Sanktionsapparat stützt“ (Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947)

- „Eine Ordnung soll heißen … Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance des (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen“ (Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921)

- „Recht ist nichts anderes als die richtige Voraussicht dessen, was die letzte gerichtliche Instanz sagen wird.“ (O.W. Holmes, 1897)

- „In diesem Sinne sind die als Recht bezeichneten Gesellschaftsordnungen Zwangsordnungen menschlichen Verhaltens“ (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 2. Aufl. 1960)

- „What the Queen in Parliament enacts is law“ (H.L.A. Hart, The concept of law, 1961)

- „Recht als Summe der geltenden Rechtsnormen“ (Bernd Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 6. Aufl. 2011)

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2. Gründe für diese Vielfalt an Definitionen a) Streit um das Verhältnis von Recht und Moral (Gerechtigkeit) (1) Kann „jeder beliebige Inhalt Recht sein“ (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre)

oder (2) setzt bereits der Begriff „Recht“ bestimmte (übergesetzliche, „naturrechtliche“, moralische) Inhalte voraus? Dieser Streit um einen (1) positivistischen oder (2) nichtpositivistischen Rechtsbegriff „tobt“ seit mehr als 2.000 Jahren. Er bildet das Hauptproblem der Rechtsphilosophie/Rechtstheorie. b) Begriff, Geltung und Inhalt von Recht Die Definitionen von Recht trennen meist nicht exakt zwischen „Begriff“ (was ist Recht?), „Geltung“ (unter welchen Bedingungen gilt Recht?) und „Inhalt“ des Rechts (welchen Inhalt hat Recht oder sollte Recht haben?). 3. Versuch einer Systematisierung „Die Frage lautet, welcher Rechtsbegriff richtig oder adäquat ist. Wer diese Frage beantworten will, muss drei Elemente ins Verhältnis setzen: das der ordnungsgemäßen Gesetztheit, das der sozialen Wirksamkeit und das der in4

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haltlichen Richtigkeit. Es entstehen ganz unterschiedliche Rechtsbegriffe, je nachdem, wie die Gewichte zwischen diesen Elementen verteilt werden“ (Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, 4. Aufl. 2005)

a) Positivistische Rechtsbegriffe Alle positivistischen Rechtsbegriffe haben gemeinsam, dass in ihnen das Element der inhaltlichen Richtigkeit (Gerechtigkeit) ausgeschlossen ist. Je nach Gewichtung der Kriterien „ordnungsgemäße Gesetztheit“ und „soziale Wirksamkeit“ erhält man aber sehr unterschiedliche positivistische Rechtsbegriffe. Es gibt also nicht einen „Rechtspositivismus“, sondern viele: aa) wirksamkeitsorientierte Rechtsbegriffe (z.B. die Definitionen von Weber, Geiger, Bierling) Einwand: Verletzung des Grundsatzes der Trennung von Sein und Sollen? Wie kann von der tatsächlichen Wirksamkeit oder Anerkennung auf den normativen Charakter des Rechts geschlossen werden? bb) setzungsorientierte Rechtsbegriffe (z.B. Bentham, Austin, Kelsen, Hart) Einwand: Kommt es nur auf die ordnungsgemäße Setzung von Recht an, so ist auch grob ungerechtes Recht „Recht“. „Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein“ (Hans Kelsen, Reine Rechtslehre)

cc) systemtheoretische Ansätze (Luhmann) 5

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„Wir können Recht nunmehr definieren als Struktur eines sozialen Systems, die auf kongruenter Generalisierung normativer Verhaltenserwartungen beruht“ (N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1972)

Einwand: Fokussierung auf technokratische Funktionalität, inhaltliche Indifferenz. b) Nichtpositivistische Rechtsbegriffe Alle nichtpositivistischen Rechtsbegriffe haben gemeinsam, dass in ihnen das Element der inhaltlichen Richtigkeit (Gerechtigkeit) enthalten ist. Recht ist nur dann Recht, wenn es vorgegebenen, erkennbaren inhaltlichen Maßstäben entspricht. Diese inhaltlichen Maßstäbe können in ganz unterschiedlicher Weise bestimmt werden (dazu näher § 5 der Vorlesung): - aus einem göttlichen Gesetz (Augustinus; Thomas von Aquin) - aus der Natur des Menschen (Hugo Grotius; Christian Tomasius; Christian Wolff) - aus der Vernunft des Menschen (Immanuel Kant) - in einem bestimmten Verfahren (z.B. rationaler Diskurs [Jürgen Habermas]; demokratischer Prozess)

Einwand: Letztbegründung inhaltlicher Maßstäbe („Naturrecht“; „Vernunftrecht“) ist nicht möglich. Diese be6

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ruhen vielmehr auf religiösen, weltanschaulichen, moralischen oder sonstigen Überzeugungen, die nicht begründbar und überprüfbar sind (sog. „Metaphysik-Problem“). 4. Hier vertretener Rechtsbegriff Eine konsequente Unterscheidung zwischen - Begriff - Geltung und - Inhalt des Rechts ermöglicht es, die unterschiedlichen, für sich jeweils richtigen Gesichtspunkte „an der richtigen Stelle“ zu diskutieren. a) Begriff des Rechts: Was ist Recht? Ordnungsgemäße Setzung; Zwangsordnung; Anerkennung (?) Definitionsvorschlag Recht ist eine Gesamtheit von Normen, die autoritativ und ordnungsgemäß gesetzt, daher wirksam sind und deren Befolgung zwangsweise durchgesetzt werden kann.

Nicht Bestandteil dieser Definition sind: 7

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- die Frage der Anerkennung des Rechts als Recht - der Aspekt der tatsächlichen Wirksamkeit (Beachtung) des Rechts - bestimmte inhaltliche Maßstäbe (Gerechtigkeit) b) Geltung des Rechts: Warum ist Recht zu beachten? Unter welchen Bedingungen gilt Recht? → Näher § 3 der Vorlesung Ordnungsgemäße Setzung; Übereinstimmung mit inhaltlichen Gerechtigkeitsmaßstäben (Gerechtigkeit)? Konflikt mit dem Gebot der Rechtssicherheit Auflösung des Konflikts zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit durch die Radbruch´sche Formel: Radbruch´sche Formel: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ´unrichtiges Recht` der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Grenze zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und 8

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den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen.“ (Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe, 2. Aufl. 2003)

„Recht“ verliert durch inhaltliche Unrichtigkeit (durch Ungerechtigkeit) also nicht seinen begrifflichen Charakter als „Recht“, sondern – als „unrichtiges Recht“ – seine Verbindlichkeit. Allerdings schiebt Radbruch noch einen Satz nach, der doch auf den Rechtscharakter abzielt: „Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur unrichtiges Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“

c) Richtiger Inhalt des Rechts: Wann ist Recht gerecht? Begründung von außerrechtlichen Gerechtigkeitsmaßstäben (Gerechtigkeitstheorien; Legitimationstheorien); 9

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Problem: wie finden solche materiellen Gerechtigkeitsmaßstäbe Eingang in das Recht? Durch die Gesetzgebung, letztlich durch die Politik. → § 5 der Vorlesung Der hier vertretene Ansatz mildert die schroffe Frontstellung zwischen „Rechtspositivisten“ und „Naturrechtlern“ ab. Es ist möglich, auf den unterschiedlichen Ebenen „Begriff“, „Geltung“ und „Inhalt“ jeweils unterschiedlich ausgeprägte Positivismen zu vertreten, ohne den Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit (auf Gerechtigkeit des Rechts) zu weit zurückdrängen zu müssen: Diskussionsebene Begriff

Themen

Ausprägung des Positivismus

- Definition „Recht“ - Elemente des Rechts - Funktionsweise des Rechts

Strenger Rechtspositivismus: strikte Trennung von Recht und außerrechtlichen Richtigkeitsmaßstäben

Rechtstheorie (Allgemeine Rechtslehre)

Geltung →§3

- ordnungsgemäße Setzung - Rechtssicherheit - Übereinstimmung mit elementaren Grundsätzen der Gerechtigkeit Rechtstheorie 10

Moderater Rechtspositivismus: im Grundsatz Trennung von Recht und außerrechtlichen Gerechtigkeitsmaßstäben, aber Durchbrechung im Ausnahmefall nach Maßgabe der Radbruch´schen Formel

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Inhalt →§5

Rechtsphilosophie Suche nach der Gerechtigkeit, nach außerrechtlichen Richtigkeitsmaßstäben („Naturrecht“, „Vernunftrecht“, „Diskursethik“ etc.)

Rechtsphilosophie Rechtspolitik

Rechtspositivismus kommt in doppelter Hinsicht vor: (1) Z.T. wird die Begründbarkeit außerrechtlicher Richtigkeitsmaßstäbe überhaupt abgelehnt („rechtsethischer Nihilismus“) (2) Andere sehen die Begründung außerrechtlicher Richtigkeitsmaßstäbe überhaupt nicht mehr als Sache der Rechtswissenschaft an (positivistischer Begriff der Rechtswissenschaft)

Beispiel: Reine Rechtslehre von Hans Kelsen. Kelsen vertritt auf der Begriffs- und auf der Geltungsebene einen strengen Positivismus. Er leugnet jedoch auf der Inhaltsebene nicht die Möglichkeit und Notwendigkeit der Diskussion von Gerechtigkeitsmaßstäben. Nur sieht er dies nicht als Aufgabe der Rechtswissenschaft, sondern der Rechtspolitik an (anders H.L.A. Hart). Allerdings hat sich Kelsen an der Diskussion über die Gerechtigkeit selbst beteiligt. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? 1953 (Reclam-Heft 18076, 2000)

Hans Kelsen (1881-1973) Österreichischer Rechtstheoretiker; Staats- und Völkerrechtler 11

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Begründer der „Reinen Rechtslehre“ Rechtspositivist Hauptwerk: Reine Rechtslehre (1934, 2. A. 1960)

II. Art. 20 III GG: Gesetz und Recht Was bedeutet diese Formel? (1) Bindung nicht nur an Gesetze, sondern auch an sonstiges Recht (Verordnungen, Satzungen, Gewohnheitsrecht)? (2) Bindung an Rechtswertungen der Verfassung? (3) Bindung an außerrechtliche Gerechtigkeitsmaßstäbe? (4) Inkorporierung außerrechtlicher Gerechtigkeitsmaßstäbe? Das BVerfG vertritt wohl Ansicht (2): BVerfGE 34, 269/286 – Rechtsfortbildung contra legem „Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltenteilungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im GG … dahin abgewandelt, dass die Rechtsprechung an ´Gesetz und Recht´ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein en12

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ger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewusstsein aufrecht, dass sich Gesetz und Recht … nicht notwendig und immer decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit der geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung.“

III. Abgrenzung des Rechts von anderen Normsystemen 1. Begriff der Norm Eine Norm ist ein Satz, der ein Sollen zum Ausdruck bringt. Beispiele: (1) „Du sollst nicht töten!“ (2) „Du sollst deinen Chef grüßen!“ (3) „ Du sollst regelmäßig deinen Blutdruck messen!“ (4) „Es zieht! Mach bitte das Fenster zu!“ (5) „Verlassen Sie diesen Platz!“ (6) „Zu einer Einladung bringt man ein GeSchenk mit!“ (7) „Am Sonntag geht man in die Kirche!“ (8) „Einen Schiedsrichter, der eine Fehlentscheidung getroffen hat, pfeift man aus!“ (9) „Während der Vorlesung darf man kein 13

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Handy benutzen!“ (10) „Du sollst einem anderen im Notfall Hilfe leisten!“ 2. Normsysteme, Normquellen Man sieht dem bloßen Normsatz noch nicht seine Quelle an. Es gibt unterschiedliche Normquellen. Eine Norm kann mehreren Normquellen entspringen: a) Gesellschaftliche Üblichkeit („Etikette“, Mode, Gewohnheit, Sitte, Brauch) Verhaltensnormen, deren Beachtung das alltägliche Leben der Menschen ordnet. Dabei kommt es auf die Bezugsgröße an: aa) Gesellschaft als Ganze: Beispiele (2), (4) und (6) bb) gesellschaftliche Teilgruppen: Beispiele (8), (9) Wissenschaft: Soziologie, Verhaltenspsychologie b) Moral („sittliche Verbindlichkeit“) Verhaltensnormen, die als inhaltlich richtig und daher als befolgungswürdig anerkannt werden. Wissenschaft: Ethik (= Moralphilosophie) Beispiele: (1), (10) 14

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c) Religion Verhaltensnormen, die ihre Quelle in den Glaubenswahrheiten einer Religion haben. Wissenschaft: Theologie Beispiele: (1), (7), (10) d) Recht Verhaltensnormen, die autoritativ gesetzt und zwangsweise durchsetzbar sind. Beispiele: (1), (5), ggf. (9), (10) e) Fachgebiete (z.B. Medizin) Beispiel: (3) 3. Unterschiede der Normquellen und Normsysteme Eine bestimmte Norm kann mehreren Normsystemen angehören. Beispiel: (1), (9), (10). Gleichwohl sind die Normquellen und Normsysteme streng von einander zu unterscheiden: a) Unterschiedliche Normbegründung b) Unterschiedliche Normdurchsetzung 15

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c) Unterschiedliche Sanktionen 4. Mischung der Normsysteme? a) Recht und Moral aa) Grundsatz: Trennung von Recht und Moral Eine moralische Norm ist nicht per se (automatisch) eine Rechtsnorm und umgekehrt. Beispiele: (1) „Du sollst arme Menschen finanziell unterstützen!“ ist eine moralische Norm, aber keine Rechtsnorm. (2) „Es ist möglichst weit rechts zu fahren“ (§ 2 II StVO) ist eine Rechtsnorm, aber keine moralische Norm. bb) Kongruenz: Eine Norm kann sowohl eine moralische Norm als auch eine rechtliche Norm sein. Es liegen dann zwei Normen mit demselben Inhalt vor. Beispiel: „Bei Unglücksfällen ist Hilfe zu leisten!“ ist eine moralische Norm und zugleich eine Rechtsnorm (§ 323 c StGB). Eine Rechtsnorm ist sie aber nicht schon allein deswegen, weil sie eine moralische 16

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Norm ist, sondern nur, weil sie der Gesetzgeber autoritativ als Recht gesetzt hat. cc) Notwendigkeit der Herstellung von Kongruenz? Inwieweit ist der rechtliche Normgeber verpflichtet, moralisch begründete oder begründbare Normen auch als Rechtsnormen zu erlassen, also Kongruenz im Sinn von bb) herbeizuführen? Problem der Bindung des rechtlichen Normgebers an außerrechtliche Richtigkeitsmaßstäbe. Beispiele: §§ 138, 242, 826 BGB Art. 2 Abs. 1 GG Insoweit sind zwei Fragen zu trennen: (1) Lassen sich außerrechtliche Richtigkeitsmaßstäbe überhaupt begründen? (2) Lässt sich Frage (1) bejahen: aus welchen Gründen sollte der Gesetzgeber verpflichtet sein, nach Maßgabe von (1) begründbare außerrechtliche Richtigkeitsmaßstäbe bei der Rechtsetzung zu beachten? Dazu ausführlich → §§ 3 V., 5 der Vorlesung dd) Ermöglichung moralisch geleiteten Handelns durch Recht Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) 17

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Davon erfasst ist das Recht, Werte und Präferenzen, Maßstäbe für „richtig und falsch“, für „gut und böse“ für sich bilden, kundtun und nach diesen moralischen Überzeugungen leben zu können. Die Gewissensfreiheit schützt allerdings nur das eigene Gewissen. Sie gibt keinen Anspruch darauf, dass auch andere nach diesen Gewissensmaßstäben handeln. Und sie gibt auch kein Recht, sich allgemeinen, in demokratisch zu Stande gekommenen Gesetzen geregelten Pflichten zu entziehen. Beispiele: (1) Der Bundesgesetzgeber ändert das Tierschutzgesetz dahin gehend, dass Tierversuche für Forschungszwecke erleichtert werden. Dagegen kann sich Bürger B nicht mit der Berufung auf seine Gewissensfreiheit wehren, weil er Tierversuche für „böse“ erachte. Anders könnte es sein, wenn B als Laborassistent arbeitsrechtlich verpflichtet wäre, an solchen Versuchen selbst mitzuwirken. Hier könnte die Schutzpflichtdimension des Art. 4 I GG dergestalt zum Tragen kommen, dass B sich arbeitsrechtlich sanktionslos weigern kann, mitzuwirken. Vgl. dazu auch BVerwG, NVwZ 1998, S. 853 ff. (2) B weigert sich, Steuern zu zahlen, da diese auch für Kriegszwecke eingesetzt würden und B überzeugter Pazifist sei. Art. 4 I GG befreit B nicht von seiner Steuerpflicht. Darin liegt kein Eingriff in Art. 4 I GG, da B seine pazifistische Überzeugun...


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