Boehler, Arno: Von der Überwindung des Ressentiments. Spinoza, Nietzsche und noch einmal Spinoza, in: Paragrana Band 29, Heft 1, pp. 123–134. PDF

Title Boehler, Arno: Von der Überwindung des Ressentiments. Spinoza, Nietzsche und noch einmal Spinoza, in: Paragrana Band 29, Heft 1, pp. 123–134.
Author Arno Boehler
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Paragrana 29 (2020) 1 De Gruyter Verlag Arno Böhler Von der Überwindung des Ressentiments Spinoza, Nietzsche und noch einmal Spinoza 1 In den ersten Kapiteln werde ich ein ethologisches Modell von Körperlichkeit vorstellen, in dem Körper, ganz im Sinne Spinozas, als lokale Bestandteile eines weltwei...


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Paragrana 29 (2020) 1

De Gruyter Verlag

Arno Böhler

Von der Überwindung des Ressentiments Spinoza, Nietzsche und noch einmal Spinoza 1

In den ersten Kapiteln werde ich ein ethologisches Modell von Körperlichkeit vorstellen, in dem Körper, ganz im Sinne Spinozas, als lokale Bestandteile eines weltweiten Gefüges gedacht werden. Körper sind demnach keine von ihrer Umgebung isolierbaren Substanzen, in ihnen treten vielmehr Sach-Verhalte in Erscheinung, denen ein systemisches Selbsterhaltungsstreben (conatus) innewohnt. Der den Körpern immanente Appetit, sich in ihrem Sein zu erhalten, bezieht sich daher nicht nur auf die Selbsterhaltung des eigenen Organismus, sondern auf die systemische Erhaltung des eigenen In-der-Welt-Seins, das ein Organismus mit seiner Umwelt teilt. In den darauffolgenden Kapiteln analysiere ich die dunkle Alchemie, die Körper erleiden, wenn ihr Appetit, sich in ihrem Sein zu erhalten, durch äußere Ursachen gehemmt und schließlich vergiftet wird. Eine Dynamik, die Nietzsche in seiner Streitschrift Zur Genealogie der Moral treffend als Wille zum Nichts charakterisiert hatte. In ihr verkehrt sich der Lebenswille in einen Hass auf das Leben, der sich am Leben zu rächen beginnt, indem er es verdammt. Diesem destruktiven, selbstwidersprüchlichen Willen zum Nichts setzt Spinoza im fünften Buch seiner Ethik eine Glückseligkeitslehre entgegen, die den Geist der Rache immunisiert, indem sie an der Hervorbringung freudvoller Lebensverhältnisse arbeitet. Nicht der dialektische Kampf gegen das Ressentiment und seine destruktive Dynamik steht daher im Zentrum seiner Ethik. Es ist vielmehr die Kultivierung aktiver Affekte – Affekte der Freude, Liebe und Selbstzufriedenheit –, die für Spinoza das Ende der Hass- und Gewaltspirale versprechen. Damit zieht er die Konsequenzen aus der Einsicht, dass ein Affekt nur durch einen anderen, stärkeren Affekt gehemmt und schließlich außer Kraft gesetzt werden kann: Hass durch tiefgründige Liebeserfahrungen, Ressentiment durch freudvolle Erfahrungen.

Der ethologische Körper In Spinoza Praktische Philosophie geht Gilles Deleuze davon aus, dass uns Spinoza ein neues Modell des Körpers vorgestellt hat, das nicht nur für seine Zeit bahnbrechend war, sondern das zu denken uns heute noch bevorsteht (vgl. Deleuze 1988, S. 27ff.). Vor allem, weil man Körper mit Spinoza nicht mehr unabhängig 1

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine überarbeitete Version meines Textes „Denken des Gemüts Spinoza, Nietzsche, Abhinavagupta“, erschienen in: Langthaler, R./Hofer, M. (Hg.): Wiener Jahrbuch für Philosophie Band L (2018), Liebe und Hass. Perspektiven aus Philosophie, Religion und Literatur. Wien 2019: new academic press, S. 79-98.

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von ihrer relationalen Verflechtung mit anderen Körpern denken kann, von denen sie umgeben werden. Sie sind keine Substanzen, keine von ihrer Umgebung isolierbaren Dinge, die an sich bestehen würden. Man muss Körper mit Spinoza vielmehr ethologisch als Wirkmächte und Handlungspotentiale definieren, die mit ihrer Umgebung auf diese oder jene Art und Weise in Wechselwirkung treten können; „es ändern sich viele Dinge“ schreibt Deleuze, „wenn ihr die Körper und Gedanken als Mächte betrachtet, zu affizieren und affiziert zu werden“ (ebd., S. 161). Denn wenn zwischen Körpern und ihrer Umgebung stets schon sensorische Fluchtlinien bestehen, die sie miteinander verbinden, dann kann die Essenz eines Körpers nicht mehr lokal bestimmt werden. Sie muss vielmehr aus dem Zusammenhang des Körpers mit seiner Umgebung gedacht werden, mit der er einen Sach-Verhalt bildet. Denn: „Jeder Punkt hat seine Kontrapunkte: Pflanzen und Regen, Spinne und Fliege. Demnach ist [...] kein Ding jemals zu trennen von seinen Beziehungen zur Welt: das Innere ist nur ein selektiertes Äußeres, das Äußere ein projiziertes Inneres“ (ebd., S. 163). Aber auch im zeitlichen Sinne lässt sich die Essenz eines Körpers spinozistisch nicht mehr im Voraus, sondern nur noch situativ bestimmen. Denn „ihr wißt nicht, wozu ihr im Guten wie im Schlechten fähig seid, ihr wißt nicht im Voraus, was ein Körper oder eine Seele in solcher Begegnung, jener Anordnung, jener Kombination [zu sein und zu tun] vermag“ (ebd., S. 162). Von der Emotion zur Kommotion „Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen“ (Spinoza 2007, 3d3, S. 223). Für Spinoza hat jede Affektion, die ein Körper am eigenen Leib erleidet, Auswirkungen auf die Wirk- und Handlungsmacht (corporis agendi potentia) des affizierten sowie des affizierenden Körpers. Das Verhältnis eines Körpers zu seiner Umgebung kann daher niemals neutral-gleichgültig sein. Wirkt sich doch jede Affektion auf das Streben des Körpers aus, sich im Sein erhalten zu wollen (vgl. Spinoza 2007, 3p6, 239). Die Welt, in der sich Körper befinden, steht ihnen ursprünglich nicht einfach als zu betrachtender Gegenstand gegenüber, sie geht Körper vielmehr an – hautnah; affiziert sie; berührt sie; steht mit ihnen haptisch-sensorisch in Beziehung. Kommt es bei Affektionen zur Ausbildung eines vermögenderen Sach-Verhalts, setzt die Begegnung des Körpers mit seiner Außenwelt für Spinoza notwendigerweise Freude frei. Der ethologische Zusammenhalt des Körpers mit seinem Milieu wird in diesem Fall größer. 2 Die affizierenden/affizierten Körper inspirieren sich wechselseitig. Heiterkeit macht sich breit. Der Sach-Verhalt, der sich zwischen ih2

„Unter Freude will ich demnach im folgenden diejenige Leidenschaft verstehen, in der der Geist zu einer größeren Vollkommenheit übergeht; unter Trauer hingegen diejenige, in der er zu einer geringeren Vollkommenheit übergeht“ (Spinoza 2007, 3p11s, S. 245).

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nen einstellt, generiert Lust. Das gemeinsam geteilte Da-sein wird intrinsisch bejaht. Zumindest für Momente liebt man das Leben mit anderen. Man ist begeistert, stimuliert, hat Appetit aufs Leben. Der Élan-vital kommt in Schwung. Die Existenz des Körpers inmitten der Welt macht gefühlt Sinn. Das Mit-dasein mit anderen wird emotional bejaht. Um zu betonen, dass uns Gefühle nicht nur den Zustand unseres Organismus, sondern die Stellung unseres Körpers inmitten der Welt signalisieren, hat Jean-Luc Nancy in Corpus vorgeschlagen, das Wort E-motion durch den Neologismus Kommotion (vgl. Nancy 2014, S. 144) zu ersetzen. Denn als ein Stück Fleisch, entrissen dem Fleisch der Welt (vgl. Merleau-Ponty 1986, S. 182, 183), werden Körper von anderen Körpern stets schon mitbewegt. Man wiegt und wägt das Mitdasein mit anderen immer schon mit ab, wenn man etwas am eigenen Leib empfindet. Worte wie mit-fühlen und Mitgefühl weisen daher auf ein konstitutives Strukturmoment hin, das in jedem Akt des Fühlens mit am Werk ist. Denn auch wenn Empfindungen im Innern eines Körpers „individuell“ getriggert werden, was man erschließt, wenn man in der ‚first person position‘ einen Affekt wie Freude empfindet, ist nicht nur der Affektzustand meines Organismus, die ganze Welt erscheint in diesem Fall vielmehr in einem freundlichen, heiteren Licht. Gerade so, als würde sich in Glücksmomenten eine Art Selbstaffektion des Seins-selbst ereignen. Vom Seins-Appetit der Körper Der Trieb definiert für Spinoza die Essenz des Menschen, weil er Menschen körperlich und geistig danach streben lässt, sich im Sein zu erhalten (conatus). Bezieht sich dieses Streben „allein auf den Geist, wird es Wille [voluntas] genannt, bezieht es sich aber auf den Geist und zugleich auf den Körper, Trieb [appetitus]. Er, der Trieb, ist somit nichts anderes als genau die Essenz des Menschen, aus dessen Natur das, was der eigenen Erhaltung dient, notwendigerweise folgt“ (Spinoza 2007, S. 3p9s, S. 243). Wird der Appetit, zu sein (‚Seins-Appetit‘), von Körpern am eigenen Leib bewusst empfunden, und nicht nur unbewusst vollzogen, dann äußerst sich das triebhaft inkorporierte Streben des Körpers nach Selbsterhaltung im Modus des Begehrens (cupiditas). In diesem Fall spürt man am eigenen Leib das Verlangen, sich im Sein erhalten zu wollen; man begehrt es, da zu sein und für das eigene Da-sein bewusst Sorge zu tragen; „deshalb kann Begierde definiert werden als Trieb, mit dem Bewusstseins des Triebes“ (Spinoza 2007, 3p9s, S. 243). Dabei gilt es in Erinnerung zu behalten, dass auch Triebe und Begierden für Spinoza keine rein subjektiven, von der Interaktion mit der Umgebung isolierbaren ‚Individuen‘ darstellen. Auch Triebe müssen spinozistisch als Gefüge (vgl. Deleuze 1996) gedacht werden, die über Fluchtlinien und Kontrapunkte mit ihrer Umgebung libidinös verkuppelt sind. In Triebgefügen bahnen sich Begehrensströme Wege, die eine konkrete Zirkulation und Fixierung des Begehrens zwischen Körpern ermöglichen.

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Der fundamentale Appetit, sich am Sein zu erhalten, der für Spinoza die Essenz eines jeden aktual existierenden Körpers ausmacht, darf spinozistisch daher nicht als eine Seinsweise missdeutet werden, in der sich ein Organismus auf egoistische Art und Weise einzig und allein um sein individuelles Überleben und Wohlbefinden inmitten der Welt kümmern würde. Gerade das Gegenteil ist bei Spinoza der Fall. Geht es einem Individuum in der Sorge um das ‚eigene‘ leibliche Überleben und Wohlbefinden inmitten der Welt doch niemals nur um seine ‚private‘, vom Rest der Welt isolierte und losgelöste Existenz, sondern um sein In-der-Welt-sein, das Körper in ihrem leiblichen „Zur-Welt-Sein“ (Merleau-Ponty 1966, S. 10) stets schon mit anderen teilen. So befindet sich etwa das Wasser oder die Nahrung, die ein Lebewesen für das ‚eigene‘ Überleben braucht, räumlich gesehen zwar außerhalb des Organismus, der am eigenen Leib Hunger und Durst verspürt. Der Sorge des lebenden Organismus um sein eigenes Überleben sind Wasser und Nahrung hingegen immanent, weil der „menschliche Körper“, wie Spinoza ausdrücklich betont, „zu seiner Erhaltung sehr vieler anderer Körper [bedarf], von denen er beständig gewissermaßen neu erzeugt wird“ (Spinoza 2007, 2p4, S. 139). Da das Streben eines Körpers, sich im Sein zu erhalten, nicht an der Oberfläche des Körpers endet, sondern auch die Außenverhältnisse des Körpers umfasst, in denen er zu anderen menschlichen und nicht-menschlichen Körpern steht, gehört es offenkundig zum „Egoismus“ der Körper, sich für ihre Umwelt zu interessieren und diese in ihre Selbstsorge einzubeziehen. Der lateinische Terminus fabrica weist darauf hin, dass man sich quasi in einer Art kosmischer Fabrik befindet, wenn man sich selbst im Sein erhalten möchte. Die eigene Selbsterhaltung eines Körpers muss fabriziert, sie muss bewerkstelligt werden. Sie ist nicht einfach gegeben, sondern muss als Aufgabe vollbracht werden. Man baut weltweit Netzwerke, zieht Fluchtlinien von einem Ort zum anderen, errichtet ein eigenes Weltgefüge, wenn man sich „egoistisch“ um die eigene Selbsterhaltung kümmert. Denn nur dann, wenn ein Körper im Stande ist, das dynamische Gleichgewicht zwischen dem eigenen Organismus und seiner Umgebung aufrecht zu erhalten, wird er seine Strebensform im Austausch mit seiner Umgebung essentiell erhalten können. 3 Liebe „Hieraus verstehen wir klar, was Liebe und Hass sind: Liebe ist nichts anderes als Freude, unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache und Hass nichts anderes 3

„Wenn von einem Körper als einem Individuum, das aus mehreren Körpern zusammengesetzt ist, einige Körper getrennt werden und zugleich ebensoviel andere derselben Natur an ihre Stelle treten, dann wird das Individuum seine Natur wie zuvor ohne irgendeine Veränderung seiner Form behalten. [...] Daraus sehen wir, wie ein zusammengesetztes Individuum auf vielfache Weise affiziert werden kann, und nichtsdestotrotz seine Natur bewahrt“ (Spinoza 2007, 2p13s, S. 137).

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als Trauer unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache“ (Spinoza 2007, 3p13s, S. 249). Liebe und Hass, als Affekte „unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache“, sind für Spinoza per Definition Gefühle, in denen sich das Verhältnis eines Körpers zur Außenwelt ausdrückt. Sie sind exogen verursacht. Man liebt und hasst ursprünglich nicht sich selbst, sondern die Lage, in der man sich mit anderen, zu anderen befindet. Geradeso, wie sich die Beziehung unseres eigenen leiblichen Inder-Welt-Seins zur Sonne am eigenen Leib in Wärmeempfindungen äußert, geradeso treten die Affekte Liebe und Hass für Spinoza nur referentiell, d.h. unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache auf. Und genauso, wie die am eigenen Leib gespürte Hitze keine bloß subjektive Empfindung ist, die ohne die Sonne als äußere Ursache zustande gekommen wäre, genau so ist die ‚subjektive‘ Empfindung von Hass oder Liebe, die wir am eigenen Leib erfahren, in Bezügen zu äußeren Ursachen fundiert. Denn: „Alle Weisen, in denen ein Körper von einem anderen Körper affiziert wird, ergeben sich aus dem Zusammen der Natur des affizierten Körpers und der Natur des affizierenden Körpers“ (Spinoza 2007, 2p13a1, S. 131). Liebende stehen in einem stimmigen Verhältnis zu-ein-ander. Zwar affizieren sich beide weiterhin von außen. Insofern die eigene Lage, in der sich Liebende äußerlich begegnen, in Affektionen der Liebe aber mit ihrem Begehren, sich am Sein zu erhalten, kommotional übereinstimmt, bildet sich in Liebesbeziehungen zwischen den liebenden Körpern ein immanenter Strebenszusammenhang aus, der beide als Gefüge zusammengehören lässt. Entsteht für Spinoza in Liebesbeziehungen doch tatsächlich ein neues Individuum, das den Liebenden kraft ihrer Liebesbeziehung erlaubt, mehr zu werden und zu sein, als sie ohne Liebesverhältnis zu sein und werden im Stande wären. Es ist dieses Durch-ein-ander-mehr-werden-Können, das die Liebenden am eigenen Leib empfinden, wenn sie Liebe für-ein-ander empfinden. Man spürt am eigenen Leib den Übergang „zu einer größeren Vollkommenheit“ (Spinoza 2007, 3p11s, S. 245). Spürt Freude, die sich aus der Beziehung zu anderen speist. In Anspielung an Jacques Lacan könnte man mit Spinoza demnach die These wagen, Liebe sei die Gabe dessen, was man nicht hat (vgl. Lacan 2004, S. 166), weil sie die Liebenden vermögender macht, indem sie sie wechselseitig über sich selbst hinauswachsen lässt. Liebesbeziehungen sind daher im wahrsten Sinn des Wortes Glücksfälle, in denen unser In-der-Welt-Sein die Glückseligkeit ‚erleidet‘, mit anderen da zu sein. Hass Das genaue Gegenteil findet für Spinoza in tristen Weltverhältnissen statt. In ihnen verschließt sich die Welt. Sie wird eng, düster. Man wird auf sich selbst zurückgeworfen, isoliert sich von ihr. Die Motivation, zu handeln und aktiv zu sein, verringert sich. Schwermut und Depression machen sich breit. Unser Appetit, am Sein zu

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sein, schwindet. In diesem Fall fühlt sich unser kommotionales In-der-Welt-Sein an, als würde der Zusammenhalt der Welt aufgrund unseliger Begegnungen mit der Außenwelt verringert, womöglich sogar auf bedrohliche Art und Weise zerstört. An die Stelle unseres ‚Seins-Appetits‘ tritt ein Widerwille gegen das Sein, der sich allmählich gegen unsere Lebenslust, gegen die Welt, gegen das Faktum, leibhaftig da zu sein, wendet. Nicht mehr aktive Affekte der Freude wie Lust, Liebe und Heiterkeit, sondern passive Affekte des Leidens wie Schmerz, Hass und Trübsal beginnen unser Gemüt zu dominieren. Ein Gefühl von Traurigkeit, unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache, macht sich breit, das unseren ‚Seins-Appetit‘ schließlich zermürbt und durch einen Willen zum Nichts ersetzt, der sich generell gegen das Faktum, da zu sein, wendet. Friedrich Nietzsche hat diese Konversion des Herzens im dritten Abschnitt Zur Genealogie der Moral „Was bedeuten asketische Ideale“ eingehend analysiert und beschrieben. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst – das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille! ... Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen ... (Nietzsche 1988, KSA 5, S. 412)

Im Falle der unglückseligen Akkumulation peinigender Erfahrungen im Verhältnis eines Körpers zur Außenwelt besteht offenkundig keine geringe Gefahr, dass der durch triste äußere Ursachen auf sich selbst zurückgeworfene und an sich selbst leidend gewordene ‚Seins-Appetit‘ schließlich soweit vergiftet und bitter geworden ist, dass er sein leibliches Dasein in der Welt aufgrund von widrigen äußeren Umständen immer mehr zu hassen beginnt (vgl. Böhler 2012; Böhler/Kruschkova/Valerie 2014). Das instinktive, triebhafte Ja zum Leben verkehrt sich in diesem Fall allmählich in ein düsteres, bitter-böses Nein zum Leben: In einen Hass auf das Leben und einen Hass zu leben, der letztlich nur noch danach trachtet, sich am Leben als solchem zu rächen. „Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein. ‚Strafe‘ nämlich, so heisst sich die Rache selber: mit einem Lügenwort heuchelt sie sich ein gutes Gewissen“ (Nietzsche 1988, KSA 4, S. 180). Im Kampf gegen den Geist der Rache, in dem der angestaute Hass am Leben re-aktionär ausagiert wird, um sich in der Vernichtung von Leben am Leben selbst zu rächen, hat schon Deleuze eine der drei großen Ähnlichkeiten zwischen Spinozas und Nietzsches Denken identifiziert (vgl. Deleuze 1988, S. 27). Gehen beide doch davon aus, dass nur durch die Reduktion von „trübsinnigen Leidenschaften“ (ebd.) die nihilistische Verneinung des ‚Seins-Ap-

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petits‘ gehemmt und irgendwann einmal womöglich sogar außer Kraft gesetzt worden sein wird. Friedrich Nietzsche: Hass spricht… Von der Verinnerlichung des Menschen „Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, wenden sich nach Innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ‚Seele‘ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist“ (Nietzsche 1988, KSA 5, S. 322). Die Selbstbezüglichkeit des menschlichen Subjekts, in der es von seiner Umgebung isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen wird, ist für Nietzsche gerade kein fundamentum absolutum inconcussum veritatis (vgl. Descartes 1992, S. 42). Nichts Erstes noch Letztes. Weder arché, noch principium, noch Grund, sondern etwas Gewordenes, Abgeleitetes. Auf den Gedanken, sich selbst als ein von der Außenwelt isolierbares, unabhängiges Individuum zu betrachten, das sich auf sich selbst zurück bezieht, indem es seine leiblichen Affektionen vergegenständlicht und damit ‚innerlich‘ reflektiert, kommt ein Lebewesen für ihn immer erst dann, wenn es von äußeren Ursachen in seinem triebhaften Ausdrucksstreben gehemmt worden ist. Die Weckung trister Gefühle unter Begleitung der Idee einer äußeren Ursache stellt für Nietzsche offenkundig die erste Voraussetzung dafür dar, dass es überhaupt zu einer Verinnerlichung des Verhältnisses zur Außenwelt kommt, und damit zur Ausbildung einer nach innen gerichteten, introspektiven und selbstreflexiven Denkweise. Erst die auf sich selbst zurückgestoßene, angestaute Triebenergie eines ursprünglich prä-reflexiv fungierenden Lebens beginnt jenen ‚inneren Monolog‘ mit sich selbst zu führen, in dem ein Lebewesen seine affektgeladene Leiblichkeit isoliert von ihr...


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