Kollektivschuld? Der Gedanke übergreifender Schuldzusammenhänge im Alten Testament und im Alten Orient, ZAR 5 (1999), 193–222. PDF

Title Kollektivschuld? Der Gedanke übergreifender Schuldzusammenhänge im Alten Testament und im Alten Orient, ZAR 5 (1999), 193–222.
Author Konrad Schmid
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Kollektivschuld ? Der Gedanke übergreifender Schuldzusammenhänge im Alten Testament und im Alten Orient1 Im Verlauf der Nürnberger Prozesse 1946–1949 wurde in unter- schiedlichen Zusammenhängen die Frage einer möglichen Kol- lektivschuld diskutiert. Bis auf die Identifizierung des verbreche- rischen...


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Kollektivschuld ? Der Gedanke übergreifender Schuldzusammenhänge im Alten Testament und im Alten Orient1

Im Verlauf der Nürnberger Prozesse 1946–1949 wurde in unterschiedlichen Zusammenhängen die Frage einer möglichen Kollektivschuld diskutiert. Bis auf die Identifizierung des verbrecherischen Charakters bestimmter Organisationen wie Gestapo und SS wurde aber von Kollektivschuldanklagen grundsätzlich Abstand genommen, ja sogar für den Fall der Gestapo und der SS wurde eigens präzisiert: Der »Gerichtshof [sollte] die Erklärung einer Organisation als verbrecherisch soweit wie möglich in einer Weise treffen, die Gewähr dafür leistet, daß unschuldige Personen nicht bestraft werden«2. Die Richter des Nürnberger Internationalen Militärgerichtshofs stellten sich damit grundsätzlich auf den Standpunkt, »daß strafrechtliche Schuld eine persönliche« sei, und vor allem von der Verteidigerseite wurde verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, daß die Erhebung einer Kollektivschuldanklage einem Rückfall in archaisches Denken gleichkäme.

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Erweiterte Fassung meiner Probevorlesung vor der Theologischen Fakultät der Universität Zürich am 26. Juni 1998, gehalten auch als Gastvorlesung in München am 24. November 1998 im Rahmen der »Münchener Vorträge zum Alten Testament«. Für wertvolle Hinweise zur Überarbeitung danke ich Prof. Dr. E. Otto. Internationaler Militärgerichtshof, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg. Amtlicher Wortlaut in Deutscher Sprache, Nürnberg 1947, Bd. XXII, 568 (zit. bei F. Rothenpieler, Der Gedanke einer Kollektivschuld in juristischer Sicht, Schriften zur Rechtstheorie 99, Berlin 1982, 163).

Der Verteidiger des Generalstabs und des Oberkommandos der Wehrmacht, Laternser, fragte etwa: »Sollte die Neuzeit etwas, was über 2000 Jahre als fundamentaler Rechtsgrundsatz galt [sc. das Prinzip der persönlichen Schuld, K.S.], so leicht über Bord werfen?«3

Kollektivschuldanklagen seien also deshalb zu unterlassen, weil sie gegen eine der wesentlichsten rechtsgeschichtlichen Errungenschaften des Strafrechts, das Prinzip der persönlichen Schuld, verstoßen und einen Rückfall in die Barbarei bedeuten würden. Daß Kollektivschuldanklagen juristisch sehr problematisch, ja in gewissem Sinn sogar absurd sind, darüber mag schnell Einigkeit zu erzielen sein4. Allein schon der Begriff der Kollektivschuld ist kürzlich – der Sache nach allerdings kein neuer Gedanke – von Hermann Lübbe zu einem moralischen und juridischen »Unbegriff«5 erklärt worden. In der Tat: Meint Kollektivschuld eine »Schuld« überindividueller Größen, die nicht einfach in der Summe der Schuld ihrer Mitglieder aufgeht, dann liegt auf der Hand, daß zumindest ein Teil von ihnen in persönlicher Hinsicht »unschuldig« ist – andernfalls würde es sich erübrigen, von »Kollektivschuld« zu sprechen. Dann aber stellt sich – jedenfalls für neuzeitliches Bewußtsein – sogleich die Frage, wie sinnvoll es ist, am Schuldbegriff festzuhalten: Kann ein Kollektiv überhaupt »schuldig« werden, gerade wenn dies ebenso definitionsgemäß wie paradox auch die »Schuld« »Unschuldiger« impliziert? Die Klassiker der neuzeitlichen Geistesgeschichte halten hierauf eine eindeutige, nämlich negative Antwort bereit: Kants Religionsschrift faßt Schuld betont als »allerpersönlichste« Größe 6, spätestens seit F.C. von Savigny ist der Rechtssprechung der Grundsatz geläu3 4

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Ebd. XII, 68. Allerdings ist auch das moderne Völkerrecht nicht völlig frei von Bestimmungen, die in gewissem Maß Kollektivhaftung vorsehen, vor allem zu nennen sind die Elemente der Sanktion und Repressalie; vgl. S. Kadelbach, Kollektivhaftung im Völkerrecht, Rechtshistorisches Journal 16 (1997), 673–680. H. Lübbe, Kollektivschuld. Funktionen eines moralischen und juridischen Unbegriffs, Rechtshistorisches Journal 16 (1981), 687–695. I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (1793, 21794), in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. von W. Weischedel, Band 7: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Darmstadt 1968, 647–879, 726.

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fig, daß nur natürliche Personen deliktsfähig seien: societas delinquere non potest7. Daß dies frühere Kulturen aus vorchristlicher Zeit aber noch ganz anders gesehen haben sollen – man denkt häufig an Sippenhaft –, ist ein zwar verbreitetes8, aber keineswegs zutreffendes Vorurteil. Die Auffassung, daß die Anfänge der Geschichte des Strafrechts durch Kollektivhaftung geprägt gewesen sei, kann man mit Fug und Recht bezweifeln, wie im folgenden am Beispiel des Alten Orients und des Alten Israels aufgewiesen werden soll. Das heißt nicht, daß der Gedanke der Kollektivschuld diesen Kulturen unbekannt gewesen ist – im Gegenteil –, doch begegnet er eben im wesentlichen in charakteristisch anderen Zusammenhängen als in Gesetzessammlungen 9. Wo ist das der Fall und weshalb ist das so? Die nachstehenden Überlegungen gliedern sich in vier Teile: Den Einstieg soll eine kurze forschungsgeschichtliche Überlegung bilden (I.), nachfolgend wird nach Bestimmungen in der altorientalischen und alttestamentlichen Rechtsliteratur zu fragen sein, in denen die Strafandrohung über den Täter hinaus auch auf 7 8

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F.C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, Berlin 1840, 312f. Dieses Vorurteil hält sich bis in die einschlägigen Lexikonartikel durch, obwohl das ausgebreitete Material es gerade nicht stützt. Vgl. G. Ries, Art. Kollektivhaftung, RLA VI, Berlin/New York 1980– 1983, 182–186, 183: »Die aus der Familienzusammengehörigkeit resultierende K[ollektivhaftung] ist seit den Anfängen der altoriental. Rechte nachweisbar. Eine gewisse Tendenz zu ihrer Einschränkung zugunsten der Individualhaftung ist im Verlauf der altoriental. Geschichte erkennbar; vollständig beseitigt scheint sie jedoch zu keiner Zeit zu sein«. – Gleichzeitig statuiert Ries aber: »Gegenüber der geschilderten außerrechtlichen K[ollektivhaftung] der Familie, die Familienmitglieder im weitesten Sinne und meist generell einbezieht, ist in allen Gesetzesbestimmungen das jeweils haftende Familienmitglied konkret beschrieben. Die undifferenzierte Haftung der Gesamtfamilie ist somit nur im sakralen und politischen Bereich bezeugt« (184) – »Außer den erwähnten neusum. Gerichtsurkunden [s. dazu u. bei Anm. 42, K.S.] sind Dokumente zur familiären K[ollektivhaftung] aus der Rechtspraxis nicht erhalten« (185). In diesem Grundzug trifft sich die Antike mit der Moderne: Begriff und Sache der Kollektivschuld spielen in der modernen juristischen Literatur kaum eine Rolle, zu den zahlreichen Thematisierungen von Kollektivschuld in der Belletristik des 20.Jh. s. das Material bei A. Hertz/W. Korff/T. Rendtorff/H. Ringeling (Hgg.) Handbuch der christlichen Ethik. Bd. 3, Aktualisierte Neuausgabe, Freiburg i.B./Basel/Wien 1993, 140–145 (J. Gründel).

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weitere Personen in dessen Umfeld ausgedehnt wird (II.). Ein dritter Teil wird sich Texten außerhalb der Rechtsliteratur zuwenden, die generationenübergreifende Schuldzusammenhänge thematisieren (III.), ein kurzer Rückblick mit Auswertung wird den Schluß bilden (IV.). I. Forschungsgeschichtliche Eingangsüberlegung Vor allem in der älteren, teilweise aber auch noch in der neueren wissenschaftlichen Literatur zur altisraelitischen Rechtsgeschichte läßt sich ein verbreitetes Bild einer Entwicklung von einer archaisch vorgestellten Kollektivhaftung zum jüngeren, nunmehr geläuterten Prinzip der Individualhaftung belegen: Man sieht etwa in der Kollektivhaftung ein »Erbe der Wüstenzeit« 10, bei Eichrodt11 ist zu lesen: »Bei dieser engen Verbindung des einzelnen mit der Gemeinschaft gehört die Kollektivhaftung des Stammes für die Vergehen seiner Glieder ebenso wie das Eintreten des Stammes für ein von Fremden verletztes Glied zu den Grundprinzipien der Rechtsauffassung«12. Noch für den 1994 erschienenen Deuteronomiumskommentar von Rose ist die »frühe Zeit ... vom Vorherrschen der Kollektivverantwortung geprägt«13. Die Ablösung der kollektiven durch die individuelle Vergeltung wird in der Regel bei Ezechiel gesehen. Bei Stade kann man stellvertretend für viele andere, auch neuere Autoren lesen: »Der individualistische Vergeltungsglaube des Judentums ist eine der Wirkungen der prophetischen Predigt. [...] Er geht auf Ezechiel 10

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A. Bertholet, Kulturgeschichte Israels, Göttingen 1919, 202; vgl. auch H. Gunkel, Art. Individualismus II. Individualismus und Sozialismus im AT, RGG2 III, Tübingen 1927, 234–239. W. Eichrodt, Theologie des Alten Testaments II/III, Stuttgart/Göttingen 41961, 158. Vgl. C. Steuernagel, Das Deuteronomium, HK I/3,1, Göttingen 21923, 140f: »Im alten Israel wurde im Zusammenhang mit der Anschauung, daß der Einzelne nur ein Glied des sozialen Organismus ist, dem er angehört, die Strafe in der Regel nicht nur am Schuldigen, sondern an seiner ganzen Familie vollstreckt«. M. Rose, 5. Mose Teilband 1: 5. Mose 12–25. Einführung und Gesetze, ZBK.AT 5.1, Zürich 1994, 274. Vgl. auch insgesamt das Referat bei J. Scharbert, Solidarität in Segen und Fluch im Alten Testament und in seiner Umwelt. Band 1: Väterfluch und Vätersegen, BBB 14, Bonn 1958, 2f Anm. 7.

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zurück, der ihn [...] zuerst formuliert hat.«14 Angeführt wird hier vor allem das in Ez 18,2 (vgl. Jer 31,29) verarbeitete Sprichwort, daß die Väter saure Trauben gegessen haben und den Söhnen davon die Zähne stumpf werden, das ja in Ez 18 dann vehement bekämpft wird. Nun stehen aber diesem Bild – bis Ezechiel herrscht die Kollektivhaftung vor, danach wird sie durch die Individualhaftung abgelöst – zwei grundlegende Beobachtungen entgegen, die schon lange bekannt sind und gerade in neuerer Zeit wieder mehrfach genannt worden sind15. Zum einen: Soweit man in der Geschichte des kodifizierten Strafrechts im Alten Orient zurückblicken kann, gibt es kaum Belege für Kollektivhaftung. Nicht nur für das Alte Testament, sondern auch für die geschichtlich viel weiter zurückreichende Rechtsliteratur des Alten Orients hat man erhebliche Schwierigkeiten, strafrechtliche Bestimmungen nachzuweisen, die die Haftung für eine Tat über den Täter hinaus auf dessen Familie, Sippe oder andere Kollektive ausdehnen. Es gibt einige wenige Rechtssätze, die an Kollektivhaftung denken lassen, sie sind jedoch – wie noch zu zeigen sein wird – anders gedacht. Als zweite Beobachtung, die dem Bild der Ablösung der Kollektivhaftung durch die Individualhaftung zur Zeit Ezechiels entgegensteht, ist zu nennen, daß es im Alten Testament außerhalb der Rechtsliteratur eine Reihe von Aussagen gibt, die von generationenübergreifender Schuld sprechen16. Gerade diese 14

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B. Stade, Biblische Theologie des Alten Testaments I. Die Religion Israels und die Entstehung des Judentums, Tübingen 1905, 285; vgl. aber auch 287: »Die alte Vorstellung von der Erbschuld, der Ezechiel zu entgehen sucht, hat sich freilich im Judentum neben Ezechiels Gedanken behauptet, ja sich im Gesetze niedergeschlagen Ex 20,5 34,7 Nu 14,18 Dt 5,9.« Die Ablösung »der alten Vorstellung von der für die Sünde der Väter ererbten Strafe« setzt auch E. Sellin (Israelitischjüdische Religionsgeschichte, Leipzig 1933, 90) bei Ezechiel an; vgl. weiter Gunkel, RGG2 III (Anm. 10), 238; A. Bertholet, Deuteronomium, KHC 5, Freiburg i.B. u.a. 1899, 76; L. Köhler, Theologie des Alten Testaments, Tübingen 31953, 150; J. Assmann, Maat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 1990, 149. Vgl. z.B. C. Levin, Die Verheißung des neuen Bundes in ihrem theologiegeschichtlichen Zusammenhang ausgelegt, FRLANT 137, Göttingen 1985, 40–46, sowie J.S. Kaminsky, Corporate Responsibility in the Hebrew Bible, JSOT.S 196, Sheffield 1995, allerdings mit ganz anderer Zielrichtung. Vgl. das Material bei bei M. Löhr, Sozialismus und Individualismus im Alten Testament. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Religionsge-

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Aussagen begegnen aber – sogar wenn man vorsichtig urteilt – keineswegs ausschließlich nur in den ältesten Textstraten des Alten Testaments; ja, man findet sie noch in Kapiteln wie Jes 65, Dan 9 oder Neh 9, die entstehungsgeschichtlich schon recht nahe an den Abschluß des Alten Testaments gehören, jedenfalls – darauf kann man sich auf alle Fälle einigen – nicht älter als Ez 18 sind. Das einfache Modell, daß die ältere Zeit des Alten Testaments im Bereich des Rechts vom Kollektivdenken geprägt gewesen sei, das dann aber durch Ezechiel überwunden worden sei, läßt sich deshalb kaum so halten. Man könnte aufgrund der genannten elementaren Beobachtungen sogar verleitet sein, mit dem genau umgekehrten Vorgang zu rechnen: Erst die Spätzeit ist es, die so etwas wie Kollektivschuld entdeckt zu haben scheint. Doch auch diese Erwägung, das alte undifferenzierte Bild einfach von den Füßen auf den Kopf zu stellen, befriedigt nicht, denn es würde genauso undifferenziert bleiben. Man wird also genauer zusehen müssen. II. Gibt es Kollektivhaftung im altisraelitischen und altorientalischen Strafrecht? Zunächst zu den strafrechtlichen Bestimmungen, die an Kollektivhaftung denken lassen könnten. Der Befund ist hier außergewöhnlich deutlich: Im alttestamentlichen Strafrecht gibt es keinen einzigen Rechtssatz, der mit Kollektivhaftung rechnet. Schon das Bundesbuch, die wahrscheinlich älteste Rechtssammlung des Alten Testaments17, kennt Strafbestimmungen nur für

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schichte, BZAW 10, Gießen 1906; R. Knierim, Die Hauptbegriffe für Sünde im Alten Testament, Gütersloh 21967, 97–111; R. Koch, Die Sünde im Alten Testament, Frankfurt a.M. u.a. 1992, 90–108; Kaminsky, Responsibility. Zum Bundesbuch vgl. E. Otto, Wandel der Rechtsbegründungen in der Gesellschaftsgeschichte des Antiken Israel. Eine Rechtsgeschichte des »Bundesbuches« Ex XX 22–XXIII 13, StB 3, Leiden u.a. 1988; ders., Rechtsgeschichte der Redaktionen im Kodex E$nunna und im »Bundesbuch«. Eine redaktionsgeschichtliche und rechtsvergleichende Studie zu altbabylonischen und altisraelitischen Rechtsüberlieferungen, OBO 85, Fribourg/Göttingen 1989; Y. Osumi, Die Kompositionsgeschichte des Bundesbuches Exodus 20,22b–23,33, OBO 105, Fribourg/Göttingen 1991; L. Schwienhorst-Schönberger, Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) Studien zu seiner Entstehung und Theologie,

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den verantwortlichen Täter selbst. Nicht einmal die Blutrachebestimmungen des Alten Testaments – namentlich zu nennen sind Ex 21,12f; Num 35,16–29; Dtn 19,1–13 – geben hierfür etwas her: Sie betreffen ausschließlich den Totschläger selbst, nie dessen Sippenangehörige18: Kann der Totschläger nicht ermittelt werden, haftet nicht die verdächtigte Sippe, sondern es wird ein Ersatzritus vorgenommen (Dtn 21,1–9). In vorstaatlichen Gesellschaften, die eo ipso kein kodifiziertes Strafrecht kennen, scheint die Blutrache in der Tat auch an anderen Personen als dem Täter vollzogen worden zu sein19. Methodisch besteht bei der Beschreibung des Instituts der Blutrache allerdings das nicht zu unterschätzende Problem, daß man hauptsächlich auf Extrapolationen angewiesen ist, da die entsprechenden Gesellschaften des Alten Orients keine Quellen hinterlassen haben. Sicher falsch ist aber ein Zerrbild der Blutrache, wie es noch Greßmann in RGG2 zeichnete: »Ob der Schuldige bestraft wird, ist gleichgültig; kann man ihn nicht treffen, so trifft man einen anderen seiner Sippe, ja oft überhaupt einen Beliebigen, so daß auch unbeteiligte Sippen mit hereingezogen werden«20. Von den arabischen Parallelen her zu urteilen wird man sich im Gegenteil peinlichst gehütet haben, zusätzliche unbeteiligte Kollektive in die Blutfehde zu involvieren, die so unkontrollierbar eskalieren würde. Generell scheint die Blutrache gerade nicht als Gewaltexzeß verfaßt zu sein, sondern vielmehr ein nach festen Regeln strukturiertes Instrument der Gewaltein-

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BZAW 188, Berlin/New York 1990; C. Houtman, Das Bundesbuch. Ein Kommentar, DMOA 24, Leiden u.a. 1997 (s. dazu die Rez. von E. Otto, Bib. 79 [1998], 414–417); vgl. auch die Lit. bei A. Schenker, Die Analyse der Intentionalität im Bundesbuch (Ex 21–23), ZAR 4 (1998), 209–217, 209f Anm. 2 (vgl. ders., JNWSL 24, 1998, 1–12). Vgl. F. Stolz, Art. Rache, TRE 29, Berlin/New York 1997, 82–88, 85. Programmatisch schon J. Wellhausen: »Soweit wir aber geschichtlich vordringen können, ist die Blutrache schon domestiziert durch das Recht und in das Recht eingefangen. ... [zu Ex 21,12ff; Dtn 19,1ff:] Blutfehde aber findet nicht statt« (Arabisch-Israelitisch, in: Th. Mommsen, Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker. Fragen zur Rechtsvergleichung, Leipzig 1905, 91–99, 93f); s. auch J. Hempel, Das Ethos des Alten Testaments, BZAW 67, Berlin 21963, 47. – Zu vergleichen ist auch § 49 des Telipinu-Erlasses (I. Hoffmann, Der Erlaß Telipinus, Texte der Hethiter 11, Heidelberg 1984, 53), der die Blutrache allein auf den Täter beschränkt und es dem »Blutherrn« überläßt, statt der Tötung des Täters eine Ersatzleistung zu fordern (s. auch u. Anm. 29). Vgl. zur Blutrache E. Merz, Die Blutrache bei den Israeliten, BWAT 20, Leipzig 1916; Scharbert (Anm. 13), Solidarität, 91–100; K.H. Singer, Alttestamentliche Blutrachepraxis im Vergleich mit der Ausübung der Blutrache in der Türkei. Ein kultur- und rechtshistorischer Vergleich, EHS.T XXIII/509, Frankfurt a.M. u.a. 1994; ders., Art. Blutrache, RGG4, Tübingen 1998, 1654f. H. Greßmann, Art. Blutrache, RGG2 I, Tübingen 1927, 1159f, 1159.

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dämmung, eine regulierende Größe in staatlich nicht verfaßten Gesellschaften gewesen zu sein – besonders deutlich wird dies durch folgendes, Mohammed zugeschriebenes Diktum illustriert: »Wäre die Blutrache nicht, wer wäre in der Wüste sicher?«21.

An Familienhaftung könnte einzig Dtn 22,8 denken lassen 22: »Wenn du ein neues Haus baust, mußt du am Dach eine Einfassung anbringen, damit du nicht Blutschuld über dein Haus bringst, falls jemand herunterfällt«.

Dies gilt aber nur, wenn mit dem zweiten (»damit du nicht Blutschuld über dein Haus bringst«) nicht mehr, wie zuvor, gegenständlich das neu erbaute Haus selbst, sondern übertragen die Familie des Erbauers gemeint ist. Daß hier gleichwohl keine Kollektivstrafe im Blick ist, zeigt sich zum einen darin, daß keinerlei strafrechtliche Konsequenzen einer solchen Blutschuld angesprochen werden, und ergibt sich zum anderen daraus, daß 22,8 der redaktionellen Verknüpfung von 22,1–12 mit den Blutrechtsbestimmungen aus Dtn 19,1–13; 21,1–9 dient23, die ihrerseits Kollektivstrafe ausschließen. Nur scheinbar eine Ausnahme stellt das Kapitel Dtn 1324 dar, das sich mit dem Problem der Apostasie befaßt und in seinem letzten Abschnitt V.13–19 den besonders schweren Fall der Apostasie einer ganzen Stadt von Jhwh 21

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Vgl. Merz, Blutrache (Anm. 19), 13 Anm. 2; W. Dietrich, Rache. Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema, EvTh 36 (1976), 450– 472, 460; Y. Guillemette, Pour vivre heureux dans le pays. A propos de deux lois du Deutéronome, in: J.C. Petit (Hg.), »Où demeures-tu?« FS G. Couturier, Montreal 1994, 123–137, 130–133; H.G.L. Peels, The Vengeance of God. The Meaning of the Root NQM and the Function of the NQM-Texts in the Context of Divine Revelation in the Old Testament, OTS 31, Leiden 1995, 79–86 (Lit.: 79 Anm. 112); Singer, Art. Blutrache (Anm. 19), 1654. Vgl. zu Dtn 22,8 G. Barbiero, L’asino del nemico. Rinuncia alla vendetta e amore del nemico nella legislazione dell’ Antico Testamento (Es 23,4–5; Dt 22,1–4; Lv 19,17–18), AnBib 128, Roma, 1991, 150f; Guillemette, Pour vivre heureux dans le pays, 129f.133–137. Vgl. dazu E. Otto, Soziale Verantwortung und Reinheit des Landes. Zur Redaktion der kasuistischen Rechtssätze in Deuteronomium 19– 25, in: R. Liwak/S. Wagner (Hgg.), Prophetie und geschichtliche Wirklichkeit im alten Israel, FS S. Herrmann, Stuttgart 1991, 290– 306, 295; ders., Theologische Ethik des Alten Testaments, ThW 3,2, Stuttgart u.a. 1994, 186f; Barbiero, L’asino del nemico, 131–202. Vgl. T. Veijola, Wahrheit und Intoleranz nach Deuteronomium 13, ZThK 92 (1995), 287–314.

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behandelt und dafür als Strafe deren vollständige Vernichtung vorsieht. Man kann ...


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