Multikulturalität und Transkulturalität PDF

Title Multikulturalität und Transkulturalität
Author Katharina Schmitt
Course Soziologische Grundbegriffe und Anwendungsfelder
Institution Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Summary

Essay zum Thema Multikulturalität und Transkulturalität bei Prof. Eickelpasch im WS 2015/2016. ...


Description

Katharina Schmitt

Essay: Ein Vergleich der Modelle „Multikulturalität“ und „Transkulturalität“ „Multikulti ist tot.“ Mit dieser mehr oder minder konstruktiven Aussage tat Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer in einer Rede im Oktober 2010 sein Missfallen über die oft als Asylflut bezeichneten Zuwanderungen kund. Ist Multikulturalität eine Bedrohung oder bietet sie eine Möglichkeit zur gegenseitigen Bereicherung? Oftmals wird die multikulturelle Gesellschaft als Ideal angesehen, schließlich gehört das Modell extern abgeschlossener Systeme der Vergangenheit an – oder was ist mit diesem Ideal gemeint? Zuerst muss der Frage nachgegangen werden, was „Multikulturalität“ überhaupt bedeutet. Hierzu ein kurzer Blick auf Wikipedia: „Multikulturalismus (zumeist abwertend auch Multi-Kulti oder Multikulti) ist der Oberbegriff

für

eine

Reihe

sozialphilosophischer

Theorieansätze

mit

Handlungsimplikationen für die Kulturpolitik eines Landes.“1 Eine äußerst allgemein formulierte Definition, die einen großen Interpretationsspielraum offenlässt. Die einzigen Anhaltspunkte für eine mögliche Grenzziehung sind nationalstaatliche und politische Grenzziehungen. Doch was ist mit Kulturpolitik gemeint? Lenkt die Politik unser kulturelles Dasein oder weshalb taucht sie in diesem Kontext auf? „Kultur ist Inhalt von Politik – sie ist Wirtschafts- und Standortfaktor, ihr Nutzen für die Gesellschaft ist unumstritten […].“2 Doch was hat Politik mit Kultur zu tun? Bedeutet Multikulturalismus automatisch, dass die Politik eingreifen und unser kulturelles Miteinander regeln muss? Ist das letztendlich Multikulturalität? Ein Sammelsurium an Theorien, die unser friedliches Miteinander gewährleisten sollen? Es scheint, als richte man sich hier nach der Annahme, dass sich die verschiedenen Kulturen wie potentielle Gefahrenherde verhielten, die ohne das Eingreifen einer höheren Instanz nicht koexistieren könnten. Das impliziert ein Modell der Kulturen als in sich geschlossene Systeme.

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Wikipedia, Multikulturalismus: https://de.wikipedia.org/wiki/Multikulturalismus Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturellebildung/60054/kulturpolitik

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Doch zunächst ein weiterer Ansatz – es ist schwer nachvollziehbar, dass das alles ist, was dem Multikulturalismus innewohnt. „Multiculturalism, the view that cultures, races, and ethnicities, particularly those of minority groups, deserve special acknowledgement of their differences within a dominant political culture.” „Multikulturalismus beschreibt die Sichtweise, dass Kulturen, Rassen und Ethnien – insbesondere die von Minderheiten – besondere Anerkennung ihrer Unterschiede innerhalb einer dominanten politischen Kultur verdienen.“3 Auch die Definition der Encyclopedia Britannica legt dem Leser nahe, dass Multikulturalismus als ein gesetzlicher Minderheitenschutz zu verstehen ist; ein diplomatischer Balanceakt zwischen sich antagonistisch gegenüberstehenden Kulturen. Von gegenseitiger Bereicherung ist hier nur mit sehr viel Phantasie die Rede. Und auch scheint es, als wären Kulturen ich sich homogene, abgeschlossene Systeme, die im „natürlichen Zustand“ nicht miteinander korrespondieren, sodass das Eingreifen einer höheren Instanz unumgänglich ist. Um dieser Theorie nachzugehen, werfen wir zunächst einen Blick auf das wohl bekannteste Modell, welches diese Annahme unterstützt: Herders Kugelmodell der Kulturen. Eine kurze Internetrecherche liefert zahlreiche Artikel, die jedoch vielfältig eine widersprüchliche Überschrift tragen: „Transkulturalität“. Bedeutet das, dass Herders Modell ohnehin bereits überholt ist? Dennoch ein kurzer Blick darauf. Johann Gottfried Herder lebte im 18. Jahrhundert und vertrat die Annahme, dass sich Kulturen wie Kugeln verhalten: Sie sind intern homogen und einheitlich, extern abgeschlossen und somit von anderen Kulturen getrennt. Der Einzelne ist als Gesamtperson Teil der Kultur.4 Trotz der verbreiteten Kritik an dieser Theorie kann man nicht behaupten, dass Herders Theorie „veraltet“ und „überholt“ ist – im Gegenteil. Je mehr Artikel man sich zum Thema „Multikulturalismus“ durchliest, desto mehr scheint es, als stimme die breite Masse Herders Theorie zumindest unterbewusst zu – Multikulturalität ist versuchte Koexistenz und kein Kulturaustausch. Dieser kann aufgrund der scheinbar geschlossenen Systeme nämlich nicht ohne Weiteres stattfinden.

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Encyclopedia Britannica: http://www.britannica.com/topic/multiculturalism vgl. 12. Vorlesung, 25.01.2015: Soziologische Grundbegriffe und Anwendungsfelder: „Fremdheit und Multikulturalität“, Seite 9

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Doch was bedeutet das für unser kulturelles Miteinander? Diese Kulturvorstellung birgt zunächst harmlos erscheinende Gefahren, die schnell im Neorassismus Fuß fassen können. „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.“5 Der Ursprung dieses negativen Blickes auf andere Kulturen findet sich in der Fremde, oder genauer gesagt, in deren inkorporierten Form: dem Fremden. „Der Fremde ist nicht der Wandernde, „der heute kommt und morgen geht“, sondern der, „der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.“6 Er ist weder Freund noch Feind, weder Fisch noch Fleisch. Eben diese Undefinierbarkeit gibt dem Fremden ein gefährliches Potential, das der „Einheimische“ nicht einzuschätzen weiß und daher der möglichen Bedrohung wachsam gegenübersteht. Wie in unserer modernen Gesellschaft häufig anzutreffen, gibt es zahlreiche Individuen, die sich mit fortschreitender Zeit überall fremd fühlen. In Deutschland sind sie Türken, in der Türkei sind sie Deutsche. Und gerade dieses „zwischen-allen-Stühlen-sitzen“ und ihre Heimatlosigkeit macht sie zu einem bedrohlichen Zwitterwesen, das andere nicht einzuschätzen wissen und somit die Vergesellschaftung selbst gefährdet. Es ist nicht der Ferne selbst, der den Menschen bedrohlich erscheint. Es ist der Ferne, der nah ist.7 Diese Ängste können in Verbindung mit dem „Kugelmodell-Denken“ nach Herder eine gefährliche Entwicklung nehmen. Indem man eine Kultur einer anderen gegenüberstellt und diese miteinander vergleich, gerät man gefährlich nahe an neorassistische und nationalistische Denkmuster.8 Derartige Begriffe möchte der moderne Mensch natürlich instinktiv abwehren: Rassismus, Nationalismus? Auf keinen Fall! Doch wie oft hat man selber wirtschaftliche, soziale und politische Faktoren einer Kultur über die einer anderen gestellt?

Wie

oft

reißen

scheinbar

überlegende

Kulturen

einen

gewissen

Herrschaftsanspruch an sich? Macht es in unserer Gesellschaft noch einen Unterschied, ob diese Herrschaft militärischer oder wirtschaftlicher Natur ist? Macht es einen Unterschied, ob man eine Kultur oder eine Rasse über eine andere stellt? Und beruhen unsere Kulturen in der Regel nicht ohnehin auf Ethnien und nationalstaatlichen Grenzen?

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Adorno 1955 Simmel 1968: 509 7 vgl. Grundwissen Soziologie, Rolf Eickelpasch 1999, S. 106, 107 8 vgl. Grundwissen Soziologie, Rolf Eickelpasch 1999, S. 124 6

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An dieser Stelle fragt man sich, wie diese Grenzen überwunden und derartige Gefahren eliminiert werden können. Womöglich kommt einem jetzt der Begriff „Interkulturalität“ in den Sinn. Was dieser genau bedeutet, weiß die Mehrheit von uns eigentlich gar nicht aber es klingt gut: tolerant, progressiv und aufgeschlossen. Und wie man sich aus der Schule vielleicht noch erinnert, steckt das lateinische Wörtchen „zwischen“ darin. Perfekt. Tippt

man

„Interkulturalität“

nun

in

Google

ein,

eilt

die

automatische

Vervollständigungsfunktion herbei und ergänzt den Begriff um das Wörtchen „Kompetenz“. Interkulturelle Kompetenz. Denn das ist erstrebenswert: tolerant, progressiv und aufgeschlossen sein. Die Erwartungen unserer Gesellschaft erfüllen und der Multi-Kulti Gesellschaft die Hand reichen. Doch tun wir das wirklich? Ist Interkulturalität wirklich derart progressiv? Der Duden liefert mir an dieser Stelle gleich zwei verschiedene Bedeutungen: „1. Bewusstsein, das für die kulturelle, sprachliche oder religiöse Verschiedenheit der Mitglieder einer Gesellschaft besonders sensibilisiert ist [und auf den Respekt bzw. die Akzeptanz der Verschiedenheit ausgerichtet ist]. 2. Wissenschaftszweig, der sich mit den individuellen und gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen verschiedener Kulturen in der globalisierten Welt befasst.“9 Allgemein ausgedrückt kann man sagen, das Interkulturalität als das „Aufeinandertreffen von zwei oder mehr Kulturen, bei dem es trotz kultureller Unterschiede zur gegenseitigen Beeinflussung kommt“10 verstanden werden kann. Doch was bedeutet dieses Verständnis von kulturellem Miteinander für uns, wenn unsere Prämisse aussagt, dass Kulturen im „Naturzustand“ durch klare Grenzen voneinander abgegrenzt sind und in sich homogen sind? Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen beherbergt durchaus ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotential – verfolgt Interkulturalität demnach den richtigen Ansatz? "Die Misere des Konzepts der Interkulturalität rührt daher da es die Prämisse des traditionellen Kulturbegriffs unverändert mit sich fortschleppt."11 Der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch spricht hier das Kernproblem des ach so progressiv wirkenden Konzepts der Interkulturalität an: Wir leben noch immer in unseren 9

Duden, Interkulturalität: http://www.duden.de/rechtschreibung/Interkulturalitaet IKUD Seminare: http://www.ikud.de/glossar/multikulturalitaet-interkulturalitaet-transkulturalitaetund-plurikulturalitaet.html 11 Welsch, Wolfgang 1995, S. 40

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sicher verschlossenen Kugeln. Wir lernen jetzt nur, wie wir mit den anderen Kugeln kommunizieren können, ohne, dass es zu einer Auseinandersetzung kommt. Wie nämlich auch die Multikulturalität beruht das die Interkulturalität auf dem Konzept von Herders Kugelmodell. Das heißt, dass auch hier die Kugeln – in ihrer Natur – nicht nur aneinanderstoßen können, sondern gar müssen.12 Das lässt folgern, dass interkulturelle Kommunikation nichts weiter als ein gutmenschlicher Versuch ist, die Leere zwischen den Kugeln zu überbrücken. Denn gemäß diesem Ansatz ist Leere das Einzige, was sich zwischen den Kugeln befindet, bzw. nicht befindet. Ein diesem Ansatz widersprüchliches Konzept nennt sich „Transkulturalität“. Ein Begriff, an dem Welsch in den Siebzigern aufgrund der sprachlichen Konfusion der bestehenden Begriffen zu arbeiten begann. Laut Welsch ist der Kulturbegriff in zwei koexistierenden Dimensionen zu verstehen, wobei diese nicht vermischt werden sollten: Die inhaltliche und die extensionale Bedeutung. Die inhaltliche Bedeutung kann als Sammelbegriff für Praktiken, wie Alltagsroutinen, Kompetenzen, Überzeugungen, Umgangsformen, Sozialregulationen, Weltbilder, etc. verstanden werden.

Die

extensionale Bedeutung richtet sich nach der geographischen, nationalen und ethnischen Ausweitung – oder im Umkehrschluss der Grenzen – der jeweiligen Kultur.13 Letztere wird als Legitimation für die beiden vorangegangenen Kulturbegriffe genutzt und stellt durch das Ignorieren des anderen wesentlichen Bestandteils ein elementares Problem dar. Mit dem Fortschreiten der Globalisierung und der zunehmenden Vernetzung ist es unumgänglich, dass sich Kulturen ineinander überfließen, sich vermischen und gewisse Bestandteile voneinander aufnehmen. Kultur ist kein Zustand, sondern ein Prozess und dieser wird mit dem Begriff der Transkulturalität näher umrissen. „Transkulturalität [stellt] nicht das Zwischen oder das Nebeneinander, sondern das über das Kulturelle Hinausgehende, Grenzüberschreitende und somit wieder Verbindende und Gemeinsame ins Zentrum.“14 Das Konzept der Transkulturalität verfolgt beinahe gegenteilige Annahmen, wie das des Kugelmodells: Es herrscht Differenziertheit und Komplexität der einzelnen Kulturen, Individuen sind „kulturelle Mischlinge“ und die Identität des Einzelnen ist als dessen Eigenleistung zu begreifen.15 Diese Individuen sind

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vgl. Welsch, Wolfgang: http://www2.unijena.de/welsch/papers/W_Welsch_Was_ist_Transkulturalit%C3%A4t.pdf Seite 3 13 vgl. Welsch, Wolfgang: http://www2.unijena.de/welsch/papers/W_Welsch_Was_ist_Transkulturalit%C3%A4t.pdf Seite 1 14 Domenig (2007, S. 172) 15 vgl. 12. Vorlesung, 25.01.2015: Soziologische Grundbegriffe und Anwendungsfelder: „Fremdheit und Multikulturalität“, Seite 13

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nicht nur dann „Mischlinge“, wenn sie im biologischen oder nationalstaatlichen Sinne mehrere Identitäten in sich tragen, sondern wenn auch auf der inhaltlichen Ebene Verflechtungen stattgefunden haben. Kaum einer kann von sich behaupten kein transkulturelles Individuum zu sein: So spüren wir doch alle eine Verbindung zu anderen Kulturen in Form von Kunst oder Musik, Schauspiel oder Sprache. Aber nicht nur in unserem persönlichen Leben, auch in der Gesellschaft finden derartige Veränderungen statt. So nimmt der Einfluss der westlichen Medizin in den asiatischen Ländern immer weiter zu, während bei uns als neu und innovativ geltende, traditionelle asiatische Behandlungsmethoden hochgepriesen werden.16 Doch was bedeutet das nun für unseren Alltag? Für unser multikulturelles Dasein? Herders Modell ist in der Theorie eindeutig überholt – es gibt keine klaren Grenzen und willkürlich bestimmte Landesgrenzen untermauern lediglich den Neorassismus, der auch, wenn er kein Rassenkonzept in dem Sinne verfolgt, andere Kulturen und somit Ethnien zu dominieren versucht. Dieser unterschwellige Herrschaftsversuch ist beinahe noch gefährlicher, als ein offensichtlicher, gar militaristischer. Wenn etwas in unserer Kultur Fuß fasst und zum Alltag wird, desensibilisiert es unsere Kritikfähigkeit zu diesem Thema.

Multikulturalität

als

Minderheitenschutz

und

Interkulturalität

als

Vermittlungszwang auf Basis eines Antagonismus der Kulturen schürt nur weiter Misstrauen und führt keineswegs zu einem Auflösen der Grenzen. Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass Transkulturalität noch immer kein vollends akzeptiertes Modell ist. Wer sich auch nur im Geringsten mit Sprache befasst wird schon einmal etwas gehört haben, wie „dieses Wort haben wir aus dem Französischen geklaut“. Und wer sich mit Kultur befasst weiß, dass das nicht stimmt – wir haben keine Grenzen durchbrochen um Bestandteile einer fremden Kultur zu stehlen. Die Grenzen haben nie existiert.

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vgl. Welsch, Wolfgang: http://www2.unijena.de/welsch/papers/W_Welsch_Was_ist_Transkulturalit%C3%A4t.pdf Seite 4

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Literaturverzeichnis 1. Bücher •

Grundwissen Soziologie, Rolf Eickelpasch 1999

2. Internetquellen •

Wikipedia, Multikulturalismus: https://de.wikipedia.org/wiki/Multikulturalismus



Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/60054/kulturpolitik



Encyclopedia Britannica: http://www.britannica.com/topic/multiculturalism



Duden, Interkulturalität: http://www.duden.de/rechtschreibung/Interkulturalitaet



IKUD Seminare: http://www.ikud.de/glossar/multikulturalitaet-interkulturalitaettranskulturalitaet-und-plurikulturalitaet.html



Welsch, Wolfgang: http://www2.unijena.de/welsch/papers/W_Welsch_Was_ist_Transkulturalit%C3%A4t.pdf

3. Andere •

Prof. Dr. Rolf Eickelpasch, 12. Vorlesung, 25.01.2015: Soziologische Grundbegriffe und Anwendungsfelder: „Fremdheit und Multikulturalität“

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