Skript Sanktionsverf Art. 260 II AEUV PDF

Title Skript Sanktionsverf Art. 260 II AEUV
Course Europarecht
Institution Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
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EU-Prozessrecht...


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EU-Prozessrecht, Sommersemester 2021 Prof. Dr. Carsten Nowak, Europa-Universität Viadrina Skript: Das Sanktionsverfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV

Das Sanktionsverfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV Das in Art. 260 Abs. 2 AEUV geregelte Sanktionsregime war vor dem Inkrafttreten des Lissaboner Reformvertrags in Art. 228 Abs. 2 EGV geregelt, der seinerzeit durch den am 1.11.1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht eingeführt wurde. Der Hauptzweck dieses durch den Lissaboner Reformvertrag leicht modifizierten Sanktionsregimes besteht nach ständiger Rechtsprechung des Unionsrichters darin, den säumigen Mitgliedstaat im Interesse der wirksamen Anwendung des Unionsrechts zu veranlassen, ein Vertragsverletzungsurteil i.S. des Art. 260 Abs. 1 AEUV durchzuführen.1 Im Einklang damit zielen die finanziellen Sanktionen, die im Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV verhängt werden können, darauf ab, auf den betreffenden Mitgliedstaat wirtschaftlichen Zwang auszuüben, der ihn dazu veranlasst, die vom Gerichtshof festgestellte Vertragsverletzung abzustellen.2 Folgerichtig stuft der Gerichtshof das in Art. 260 Abs. 2 AEUV vorgesehene Verfahren, das durchaus auch als „ Follow-up-Verfahren“ bezeichnet werden kann, als ein spezielles Verfahren zur Durchführung seiner Urteile und zugleich als Vollstreckungsverfahren ein3, das in die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH fällt und die Kommission somit vor allem auch daran hindert, im Rahmen der Prüfung der Durchführung eines vom EuGH nach Art. 260 Abs. 2 AEUV erlassenen Urteils in diese ausschließliche Zuständigkeit einzugreifen.4 Dementsprechend sieht Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV für den Fall, dass der betreffende Mitgliedstaat nach Auffassung der Kommission nicht seiner in Art. 260 Abs. 1 AEUV geregelten Handlungspflicht nachgekommen ist, ausdrücklich vor, dass die Kommission den Gerichtshof abermals anrufen kann, nachdem sie diesem Staat zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Über diese Möglichkeit verfügt nach dem Wortlaut des Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV und nach Art. 260 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV, wonach das hier in Rede stehende Verfahren den auf die Staatenklage bezogenen Art. 259 AEUV unberührt lässt, nur die Kommission und nicht auch die Mitgliedstaaten.5 Die Wahrnehmung dieser insoweit ausschließl ich der „Hüterin der Verträge“ eingeräumten Möglichkeit steht im Ermessen der Kommission, welches sich hinsichtlich seiner Reichweite nicht von dem ihr im Anwendungsbereich des Art. 258 AEUV zustehenden – nahezu unbegrenzten – Verfolgungsermessen unterscheiden dürfte. Ungeachtet dessen macht die Kommission von dieser Möglichkeit in der Praxis recht intensiven Gebrauch. Ein bedeutsamer Unterschied zwischen den in Art. 258 AEUV und Art. 260 Abs. 2 AEUV geregelten Verfahren besteht insoweit, als die Kommission in der vorgerichtlichen Phase des 1 2 3 4 5

Vgl. EuGH, C-369/07, Slg. 2009, I-5703, Rn. 140 – Kommission/Griechenland. Vgl. EuGH, C-304/02, Slg. 2005, I-6263, Rn. 80, 91 – Kommission/Frankreich; EuGH, C-109/08, Slg. 2009, I-4657, Rn. 28 – Kommission/Griechenland. Vgl. EuGH, C-457/07, Slg. 2009, I-8091, Rn. 47 – Kommission/Portugal; EuGH, C-292/11 P, ECLI:EU:C:2014:3 Rn. 48 ff. – Kommission/Portugal. Vgl. EuGH, C-292/11 P, ECLI:EU:C:2014:3 Rn. 40 – Kommission/Portugal, mAnm Wendenburg EuZW 2014, 187 f. In diesem Sinne vgl. auch statt vieler Gurreck/Otto, JuS 2015 1079 (1082).

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in Art. 258 AEUV geregelten Vertragsverletzungsverfahrens eine mit Gründen versehene und mit einer Fristsetzung verbundene Stellungnahme erlässt, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat zu den erhobenen Vorwürfen geäußert hat, während sie i.R. der vorgerichtlichen Phase des in Art. 260 Abs. 2 AEUV geregelten Verfahrens – abweichend von der Vorgängerregelung des Art. 228 Abs. 2 UAbs. 1 EGV – von der Verpflichtung zum Erlass einer solchen Stellungnahme nunmehr befreit ist. Diese dem Interesse an einer Verfahrensbeschleunigung dienende und durch den Lissaboner Reformvertrag herbeigeführte Neuerung bedeutet, dass die Kommission i.R. der vorgerichtlichen Phase des in Art. 260 Abs. 2 AEUV geregelten Verfahrens nur ein Aufforderungs- bzw. Mahnschreiben an den betreffenden Mitgliedstaat zu richten hat, um diesem Staat die in Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV explizit angesprochene Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Ist die Kommission nach einer erfolgten oder unterbliebenen Äußerung dieser Art weiterhin davon überzeugt, dass der betreffende Mitgliedstaat gegen seine in Art. 260 Abs. 1 AEUV geregelte Handlungspflicht verstoßen hat, muss sie insoweit nicht noch einmal an diesen Staat herantreten. Stattdessen kann sie in einem solchen Fall den Gerichtshof unmittelbar bzw. sofort anrufen, so dass die vorgerichtliche Phase des in Art. 260 Abs. 2 AEUV geregelten Verfahrens weniger Zeit als die vorgerichtliche Phase des in Art. 258 AEUV geregelten Vertragsverletzungsverfahrens in Anspruch nimmt. Eine weitere Folge der o.g. Neuerung ist, dass der maßgebende Zeitpunkt zur gerichtlichen Beurteilung des Vorliegens einer Vertragsverletzung im Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV nicht dem maßgebenden Zeitpunkt zur Beurteilung des Vorliegens einer Vertragsverletzung im Verfahren nach Art. 258 AEUV entspricht, sondern vielmehr durch den Tag des Ablaufs der Frist markiert wird, die in dem nach Art. 260 Abs. 2 AEUV versandten Aufforderungsschreiben gesetzt wurde.6 Macht die Kommission von ihrer vorgenannten Befugnis zur erneuten Anrufung des Gerichtshofs Gebrauch, eröffnet ihr Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV die Möglichkeit, hierbei zugleich die Höhe des von dem betreffenden Mitgliedstaat zu zahlenden Pauschalbetrags oder Zwangsgelds zu benennen, das sie den Umständen nach für angemessen hält. Hierbei dürfte es sich nicht nur um eine Befugnis, sondern sogar um eine grundsätzliche Pflicht der Kommission zur Benennung eines angemessenen Pauschalbetrags oder Zwangsgelds handeln, da Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV abweichend von Art. 260 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV nicht als „Kann“-Bestimmung formuliert ist. Der wesentliche Zweck eines Pauschalbetrags besteht in der Ahndung der Fortsetzung eines Unionsrechtsverstoßes für den Zeitraum zwischen dem diesen Verstoß feststellenden (ersten) Urteil des Gerichtshofs auf der Grundlage des Art. 258 AEUV i.V.m. Art. 260 Abs. 1 AEUV bis zu seinem (zweiten) Feststellungsurteil auf der Grundlage des Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. Während ein solcher Pauschalbetrag insoweit einen repressiven bzw. strafähnlichen Charakter hat, überwiegt bei einem Zwangsgeld der Beugecharakter, da es primär der baldigen Abstellung des jeweils in Rede stehenden Unionsrechtsverstoßes dient. Vor diesem Hintergrund hält der Gerichtshof die Verhängung eines Zwangsgelds grundsätzlich nur insoweit für 6

Vgl. EuGH, C-184/11, ECLI:EU:C:2014:316 Rn. 35 – Kommission/Spanien; EuGH, C-557/14, ECLI:EU:C:2016:471 Rn. 36 – Kommission/Portugal; EuGH, C-626/16, ECLI:EU:C:2018:525 Rn. 49 – Kommission/Slowakei; EuGH, C-93/17, ECLI:EU:C:2018:903 Rn. 73 – Kommission/Griechenland.

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gerechtfertigt, als die Vertragsverletzung, die sich aus der Nichtdurchführung eines früheren Urteils ergibt, bis zu der ihm obliegenden Sachverhaltsprüfung andauert.7 Ist dies der Fall, sieht der Gerichtshof die Verhängung eines Zwangsgelds als „besonders geeignet“ an, um einen Mitgliedstaat zu veranlassen, eine Vertragsverletzung, die ohne eine solche Maßnahme die Tendenz hätte, sich fortzusetzen, so schnell wie möglich abzustellen. Dem entspricht die ebenfalls ständige EuGH-Rechtsprechung, wonach das vorgenannte Zwangsgeld nach Maßgabe des Überzeugungsdrucks bzw. nach Maßgabe des dem Gerichtshof erforderlich erscheinenden Grades an Überzeugungs- und Abschreckungswirkung festzusetzen ist, der erforderlich ist, damit der mit der Durchführung eines (ersten) Vertragsverletzungsurteils säumige Mitgliedstaat sein Verhalten ändert und die gerügte Zuwiderhandlung beendet.8 Im Unterschied dazu beruht die Verhängung eines Pauschalbetrags im Wesentlichen auf der Beurteilung der Folgen einer Nichterfüllung der Verpflichtungen des betreffenden Mitgliedstaats für die privaten und öffentlichen Interessen, insbesondere wenn die Vertragsverletzung seit dem Urteil, mit dem sie ursprünglich festgestellt wurde, lange Zeit fortbestanden hat.9 Aus Gründen der Transparenz hat die Kommission die Methoden und Kriterien, die bei der ihr obliegenden Benennung angemessener Pauschalbeträge und Zwangsgelder Anwendung finden, durch eine Mitteilung aus dem Jahre 2005 publik gemacht, 10 die frühere Kommissionsmitteilungen dieser Art ersetzt hat und die ihrerseits zwischenzeitlich durch jüngere Kommissionsmitteilungen11 aktualisiert wurde. Demnach werden die von der Kommission zu benennenden bzw. zu beantragenden Beträge nach Tagessätzen bestimmt und auf der Grundlage bestimmter mathematischer Formeln nach der Schwere und Dauer des jeweils in Rede stehenden Unionsrechtsverstoßes sowie unter Beachtung einer hinreichender Abschreckungswirkung berechnet, wobei Letzteres mit einer Berücksichtigung der Zahlungsfähigkeit und des Stimmengewichts des betreffenden Mitgliedstaats im Rat einhergeht.12 Während die Kommission die Benennung von Zwangsgeldern ursprünglich für das geeignetste Mittel zur Erreichung einer schnellstmöglichen Beendigung von Unionsrechtsverstößen hielt13 7

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Vgl. etwa EuGH, C-378/13, ECLI:EU:C:2014:2405 Rn. 47 – Kommission/Griechenland; EuGH, C-557/14, ECLI:EU:C:2016:471 Rn. 61 – Kommission/Portugal; sowie EuGH, C-543/17, ECLI:EU:C:2019:573 Rn. 60 f. – Kommission/Belgien, mit dem weiteren Hinweis, dass dies auf Art. 260 Abs. 3 AEUV entsprechend anzuwenden ist; näher zur vorgenannten Entscheidung vgl. Wendenburg, EuR 2019, 637 ff. Vgl. EuGH, C-557/14, ECLI:EU:C:2016:471 Rn. 67 – Kommission/Portugal; EuGH. C-93/17, ECLI:EU:C: 2018:903 Rn. 117 – Kommission/Griechenland; EuGH, C-543/17, ECLI:EU:C:2019:573 Rn. 78 – Kommission/Belgien. Vgl. nur EuGH, C-407/09, Slg. 2011, I-2467, Rn. 28 – Kommission/Griechenland; EuGH, C-626/16, ECLI:EU:C:2018:525 Rn. 97 – Kommission/Slowakei. Kommissionsmitteilung SEK(2005) 1658, 1 ff. Vgl. insbes. die Kommissionsmitteilungen SEK(2010) 923/3, 1 ff., SEK(2010) 1371, 1 ff., sowie die Mitteilung der Kommission – Aktualisierung der Daten für die Berechnung der Pauschalbeträge und Zwangsgelder, die die Kommission dem Gerichtshof der Europäischen Union bei V ertragsverletzungsverfahren vorschlägt, ABl. EU 2019 C 309/ 1 ff. Ausführlicher zu dieser Methode sowie zu den verschiedenen Kriterien der Bemessung jeweils angemessener Beträge durch die Kommission vgl. Pauling, EuZW 2006, 492 ff.; Pechstein, in: Pechstein/Nowak/Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, 2017, Art. 260 AEUV Rn. 12 ff.; Thiele, EuR 2008, 320 (335 ff.). Vgl. Ziff. 4 ihrer damaligen Mitteilung vom 21.8.1996 „über die Anwendung von Artikel 171 EG -Vertrag“, ABl. EG 1996 C 242/6 ff.

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und zunächst davon ausging, daneben nicht in jedem Fall auch einen Pauschalbetrag einfordern bzw. benennen zu müssen, hat sie sich von diesem zurückhaltenden Ansatz verabschiedet, nachdem der Gerichtshof in einer einschlägigen Entscheidung aus dem Jahre 2005 deutlich gemacht hatte, dass die beiden vorgenannten Sanktionsformen in Gestalt von Pauschalbeträgen und Zwangsgeldern durchaus kumulativ festgesetzt werden können;14 dementsprechend ist die Kommission in der Folge dazu übergegangen, bei der ihr obliegenden Benennung angemessener Pauschalbeträge oder Zwangsgelder grundsätzlich beide Sanktionsmittel zur Anwendung zu bringen. Im Rahmen der gerichtlichen Phase eines auf der Grundlage des Art. 260 Abs. 2 AEUV ablaufenden Vertragsverletzungsverfahrens trägt die Kommission im Hinblick auf das Vorliegen eines mitgliedstaatlichen Verstoßes gegen die aus Art. 260 Abs. 1 AEUV resultierende Handlungspflicht die Darlegungs- und Beweislast. Dies ergibt sich v.a. aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach es i.R. eines auf Art. 260 Abs. 2 AEUV gestützten Verfahrens Sache der Kommission ist, dem Unionsrichter die Angaben zu liefern, die erforderlich sind, um zu bestimmen, welchen Stand der Durchführung eines (ersten) Vertragsverletzungsurteils der betreffende Mitgliedstaat erreicht hat.15 Stellt der Gerichtshof sodann im Einklang mit der von der Kommission vertretenen Auffassung in der Folge fest, dass der betreffende Mitgliedstaat seinem (ersten) Vertragsverletzungs- bzw. Feststellungsurteil entgegen der in Art. 260 Abs. 1 AEUV statuierten Verpflichtung tatsächlich nicht nachgekommen ist, 16 so kann er – wie erstmals am 4.7.2000 geschehen17 – gemäß Art. 260 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV schlussendlich die Zahlung eines Pauschalbetrags und/oder Zwangsgelds verhängen. Von dieser auch die kumulative Verhängung eines Pauschalbetrags und eines Zwangsgeldes umfassenden Befugnis hat der Gerichtshof bereits mehrfach Gebrauch gemacht.18 Hierbei ist zugleich deutlich geworden, dass die beiden vorgenannten Sanktionsformen gerade auch im speziellen Anwendungsbereich des EU-Beihilfenrechts erhebliche praktische Bedeutung entfalten. Dies unterstreichen insbesondere vier einschlägige Urteile des Gerichtshofs vom 7.7.2009, vom 17.11.2011, vom 11.12.2012 und vom 13.5.2014, mit denen die Kommission erreicht hat, dass gegen die betreffenden Mitgliedstaaten finanzielle Sanktionen der vorgenannten Art verhängt wurden, weil diese Staaten nicht ihrer durch vorangegangene

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Vgl. EuGH, C-304/02, Slg. 2005, I-6263, Rn. 83 – Kommission/Frankreich, mit Anm. Huck/Klieve, EuR 2006, 413 ff. Vgl. nur EuGH, C-387/97, Slg. 2000, I-5047, Rn. 73 – Kommission/Griechenland; EuGH, C-369/07, Slg. 2009, I-5703, Rn. 74 – Kommission/Griechenland. Den maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der hier in Rede stehenden Vertragsverletzung bildet der Ablauf der in der letzten Aufforderung der Kommission gesetzten Frist; so auch EuGH, C-610/10, ECLI:EU:C:2012:781 Rn. 67 f. – Kommission/Spanien; EuGH, C-270/11, ECLI:EU:C:2013:339 Rn. 16 – Kommission/Schweden. EuGH, C-387/97, Slg. 2000, I-5047 ff. – Kommission/Griechenland, mit Anm. Heidig, EuR 2000, 782 ff. Zur Möglichkeit der kumulativen Verhängung beider Sanktionsformen vgl. nur EuGH, C-304/02, Slg. 2005, I-6263, Rn. 83 – Kommission/Frankreich; zur Verhängung von Zwangsgeldern u. Pauschalbeträgen in Fällen der Nichtbefolgung von Vertragsverletzungsurteilen vgl. ferner EuGH, C-369/07, Slg. 2009, I-5703, Rn. 58 ff. – Kommission/Griechenland; EuGH, C-610/10, ECLI:EU:C:2012:781 Rn. 77 ff. – Kommission/Spanien; EuGH, C-626/16, ECLI:EU:C:2018:525 Rn. 96 – Kommission/Slowakei.

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Vertragsverletzungsurteile bestätigten Verpflichtung zur Umsetzung administrativer Rückforderungsbeschlüsse fristgerecht nachgekommen sind.19 Bei der ihm obliegenden Verhängung der vorgenannten Sanktionen sieht sich der Gerichtshof weder an die in den oben genannten Kommissionsmitteilungen enthaltenen Leitlinien noch an die von ihm lediglich als nützliche Bezugspunkte eingestuften Beträge gebunden, die von der Kommission bei Erhebung ihrer zweiten Vertragsverletzungsklage benannt bzw. vorgeschlagen wurden.20 Vielmehr sieht er es als seine Sache an, in jeder Rechtssache und anhand der Umstände des Einzelfalls, mit dem er befasst ist, sowie nach Maßgabe des ihm erforderlich erscheinenden Grades an Überzeugungskraft und Abschreckung die angemessenen finanziellen Sanktionen zu bestimmen, um für eine möglichst schnelle Durchführung des Urteils, mit dem zuvor eine Vertragsverletzung festgestellt wurde, zu sorgen und die Wiederholung ähnlicher Verstöße gegen das Unionsrecht zu verhindern.21 Dies bedeutet, dass die vom Gerichtshof festzusetzenden Beträge nicht nur hinter den von der Kommission benannten Beträgen zurückbleiben können, sondern – anders als im Anwendungsbereich des Art. 260 Abs. 3 AEUV – auch darüber hinausgehen dürfen. Bei der ihm obliegenden Bestimmung konkreter Beträge wendet der Gerichtshof im Prinzip gleichwohl die Methoden und Kriterien an, die auch bei der vorausgehenden Benennung angemessener Beträge durch die Kommission Anwendung finden. Dies verdeutlicht seine mittlerweile gefestigte Rechtsprechung, wonach auch in diesem Kontext grundsätzlich die Dauer und der Grad der Schwere des Unionsrechtsverstoßes sowie die Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats als Grundkriterien heranzuziehen sind und wonach bei der Anwendung dieser Kriterien insbesondere zu berücksichtigen ist, welche Folgen die Nichterfüllung der Verpflichtungen für die öffentlichen und die privaten Interessen hat und wie dringend es ist, dass der betreffende Mitgliedstaat seinen Verpflichtungen nachkommt.22 Wird ein Mitgliedstaat im Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV zur Zahlung eines Pauschalbetrags und/oder eines Zwangsgeldes verurteilt, hat er diese Beträge an die Kommission auf das Konto „Eigenmittel der Europäischen Union“ zu zahlen. Die Verteilung der diesbezüglichen Lasten im Verhältnis zwischen Bund oder Zentralstaat auf der einen Seite und Bundesländern oder anderen staatlichen Untergliederungen auf der anderen Seite richten sich nach dem

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Vgl. EuGH, C-369/07, Slg. 2009, I-5703 ff. – Kommission/Griechenland; EuGH, C-496/09, Slg. 2011, I11483 – Kommission/Italien, mit Anm. Barth, EuZW 2012, 119 f.; EuGH, C-184/11, ECLI:EU:C:2014:316 Rn. 58 ff. – Kommission/Spanien. Vgl. nur EuGH, C-557/14, ECLI:EU:C:2016:471 Rn. 69 – Kommission/Portugal; EuGH, C-93/17, ECLI:EU:C:2018:903 Rn. 119 – Kommission/Griechenland. Vgl. etwa EuGH, C-184/11, ECLI:EU:C:2014:316 Rn. 58 ff. – Kommission/Spanien; EuGH, C-543/17, ECLI:EU:C:2019:573 Rn. 78 – Kommission/Belgien. Vgl. nur EuGH, C-378/13, ECLI:EU:C:2014:2405 Rn. 53 ff. – Kommission/Griechenland; EuGH, C-557/14, ECLI:EU:C:2016:471 Rn. 70 ff. – Kommission/Portugal; EuGH, C-626/16, ECLI:EU:C:2018:525 Rn. 84 ff. – Kommission/Slowakei; EuGH, C-93/17, ECLI:EU:C:2018:903 Rn. 120 ff. – Kommission/Griechenland; EuGH, C-543/17, ECLI:EU:C:2019:573 Rn. 84 – Kommission/Belgien.

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innerstaatlichen Recht des betreffenden Mitgliedstaats – in Deutschland insbesondere nach Art. 104a Abs. 6 GG i.V.m. dem sog. Lastentragungsgesetz.23 Im theoretisch denkbaren – innerhalb der supranationalen „Rechtsunion“ an sich nicht hinnehmbaren – Fall einer anhaltenden Nichtbefolgung eines im Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV ergangenen (zweiten) Feststellungsurteils durch den betreffenden Mitgliedstaat stellt sich schließlich die Frage nach der Existenz wirksamer Sanktions- und Vollstreckungsmöglichkeiten. Weitgehende Einigkeit besteht diesbezüglich nur insoweit, als der Rückgriff auf völkerrechtliche Sanktionen in diesem Kontext ausscheidet.24 Soweit Art. 280 AEUV bestimmt, dass Urteile des Gerichtshofs gemäß Art. 299 AEUV vollstreckbar sind, ist umstritten, ob sich die beiden vorgenannten Bestimmungen auch auf Urteile des Gerichtshofs im Verfahren nach Art. 260 Abs. 2 AEUV erstrecken, da sich Art. 299 AEUV seinem Wortlaut nach nicht auf die Vollstreckung „gegenüber Staaten“ zu beziehen scheint.25 Im Übrigen könnte die EU in diesem Kontext möglicherweise von dem in Art. 7 EUV geregelten Sanktionsregime 26 sowie von bestimmten Aufrechnungsmöglichkeiten Gebrauch machen, die im einschlägigen Schrifttum allerdings ebenfalls kontrovers diskutiert werden.27

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Gesetz zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen v. 5.9.2006, BGBl. I 2098 ff.; nähe...


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