Was versteht George Herbert Mead unter dem „role-taking“? PDF

Title Was versteht George Herbert Mead unter dem „role-taking“?
Course Soziologische Grundbegriffe und Anwendungsfelder
Institution Westfälische Wilhelms-Universität Münster
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Summary

Was versteht George Herbert Mead unter dem „role-taking“, also der Perspektivenübernahme in der Entwicklung eines Individuums und wie stellt er sich die damit verbundenen Seiten des Ichs – „me“ und „I“ vor?...


Description

Was versteht George Herbert Mead unter dem „role-taking“, also der Perspektivenübernahme in der Entwicklung eines Individuums und wie stellt er sich die damit verbundenen Seiten des Ichs – „me“ und „I“ vor? Ein erster Überblick Im folgenden Essay werde ich erörtern, was Perspektivenübernahme nach Mead bedeutet und welchen Stellenwert er dieser zuspricht. Thematisieren werde ich hierzu die regelgeleiteten Rollenspiele des Kindes, die Mead in ‚play’ und das ‚game’ unterscheidet. Dabei soll ebenfalls von Interesse sein, inwiefern er die zwei Seiten des Ichs, nämlich das ‚me’ und das ‚I’ differenziert und wie das Ich von den übernommenen Normen und Werten der Gesellschaft, also durch die Rollenübernahme beeinflusst wird. Bevor ich thematisch starte, soll vorerst ein Überblick über die Person George Herbert Mead geliefert werden, bei dem es auch zu einer Einordnung seiner Standpunkte in das Spektrum der soziologischen Ansätze und Denkweisen kommt. In Folge wird sich das Essay nun vorerst mit der Perspektivenübernahme des Kindes beschäftigen und im weiteren Verlauf das ‚play’ dem ‚game’, sowie das ‚me’ dem ‚I’ gegenüberstellen.

Zur Person George Herbert Mead und seine soziologische Position G.H. Mead wurde am 27. Februar 1863 in Massachusetts in den USA in eine als religiös geltende Familie mit zahlreichen Pfarrern geboren. Aufgrund seines Elternhauses wächst er „restriktiv, puritanisch-religiös“1 auf und bricht erst mit dem Beginn seiner Collegezeit in Ohio mit diesen Denkweisen (vgl. Wenzel: George Herbert Mead, S. 17) 1. Er gehörte zu den Vorreitern der Philosophen seiner Zeit, denn er versuchte die psychologischen Aspekte zu separieren und somit zu einem „eigenständigen Fach an der amerikanischen Universität“ 1 zu machen (vgl. Wenzel S. 8) 1. Trotz der Ausdifferenzierung der Psychologie wechselte Mead nicht sein Fach, er beschäftigte

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Wenzel, Harald,1990: George Herbert Mead - zur Einführung. 1. Auflage, Hamburg: Junius Verlag GmbH 1

sich viel mehr mit der Sozialpsychologie, die laut Wenzel weder der Philosophie, noch der Psychologie oder der Soziologie klar zuzuordnen ist. Bis heute ist er demnach als „Sozialpsychologe, Soziologe und Philosoph“ (vgl. Wenzel Klappentext) 1 bekannt und geschätzt und gehört zu den Anhängern des Intersubjektivismus bzw. des symbolischen Interaktionismus. Anders als im Individualismus oder Holismus, die sich im Laufe der Vorlesung häufig gegenüberstanden, geht es hierbei nicht darum die Gesellschaft als Summe, der in ihr lebenden Individuen bzw. als ein großes Ganzes zu sehen, sondern vielmehr darum, wie die Individuen einer Gesellschaft sich gegenseitig beeinflussen und untereinander agieren. Wie sie sich gegenseitig wahrnehmen und durch wechselseitige Interpretation auch ihr eigenes Verhalten reflektieren können. Darüber hinaus werden die vorherrschenden Werte einer Gesellschaft beobachtet und wie diese sich auf die neue Bevölkerung auswirken und sie prägen. Mead sieht Gesellschaft demnach also „als ein Kommunikationsprozess“2, der ohne ständige wechselseitige und auch reflexive Interpretationsvorgänge nicht möglich ist und der das menschliche Miteinander immer weiter antreibt. Anders als bei vielen Tieren kann sich der Mensch nicht auf seine Instinkte verlassen. Menschliches Miteinander beruht nicht auch Reiz-Reaktions-Schemata, denn der Mensch ist durch seine Vernunft gesteuert. Diese Vernunft und die Fähigkeit zu stoppen und über Dinge nachzudenken, motiviert ihn zu kommunizieren. Würden alle Menschen funktionieren wie beispielsweise Ameisen in einer Kolonie, die fungiert wie ein großer Organismus, dann würde ihm der Anreiz zur Kommunikation und damit nach Mead auch der Status einer Gesellschaft genommen (vgl. Abels: Einführung in die Soziologie, S.22)3.

„Denken bedeutet, dass wir mittels Sprachsymbolen jederzeit über Eindrücke, Erfahrungen und Erwartungen verfügen können. ... Die Sprache als symbolisches Kommunikationsmedium ist die entscheidende evolutionäre Leistung, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet.“3

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Schäfers, Bernhard; Kopp, Johannes, 2006: Grundbegriffe der Soziologie. 9., überarbeitete und aktualisierte Auflage, Wiesbaden: GWV Fachverlage GmbH 3 Abels, Heinz, 2004: Einführung in die Soziologie, Bd. 1: Der Blick auf die Gesellschaft, Bd. 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2

Damit kommen wir zur Klärung des Begriffs des symbolischen Interaktionismus. ‚Symbolisch’ bedeutet wie oben beschreiben, die Tatsache, dass die menschliche Verständigung auf Symbolen, die vor allem sprachlicher Natur sind, beruht. Der Punkt der Interaktion wird im nächsten Abschnitt noch einmal vertieft, vereinfacht gesagt geht es aber darum, dass Aussagen und Verhalten von anderen und auch von einem selbst jederzeit aufgenommen werden müssen und eine Reaktion auslösen. Das wechselseitige Reagieren auf das Gegenüber, die Bezugnahme aufeinander und das Überdenken der eigenen Aussagen kann als Interaktion wahrgenommen werden.

Role taking durch Perspektivenübernahme Laut Mead kann ein Kind nur ein wirkliches ‚Ich’ entwickeln, wenn es aus sich selbst rausgeht und sich durch die Außenwelt, also die Gesellschaft, spiegelt und so das eigene Verhalten reflexiv wahrnehmen kann. Einzig durch die Reaktion und Wertung der Umwelt des Individuums findet es zu sich selbst und lernt eigene Verhaltensweisen einzuordnen und diese mit denen der anderen zu vergleichen (vgl. Eickelpasch: Grundwissen Soziologie, S. 28)4. Bereits in den ersten Lebensjahren befindet sich jedes Kind in einem Netz an Beziehungen und muss in unterschiedliche Rollen schlüpfen, welche mit unterschiedlichen Erwartungen einhergehen. Das Kind probt die Konsequenzen dieser Erwartungshaltungen seines Umfeldes durch ein regelgeleitetes Rollenspiel, das sogenannte ‚play’, welches nach Mead als erste Stufe der Perspektivenübernahme zu sehen ist. Hierbei geht es darum, dass das Kind alleine in seiner kindlichen Phantasie Szenen durchspielt und dabei in Abwechslung die beiden unterschiedlichen Rollen einnimmt.

„Es spielt ‚Kaufmann’ und ist dabei Verkäufer und Kunde zugleich. Oder es spielt ‚Polizist’ und verhaftet sich selbst. Das Kind sagt etwas in einer Rolle und antwortet darauf in einer anderen. So übt es sich in der grundlegenden

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Eickelpasch, Rolf, 1999: Grundwissen Soziologie. 1. Auflage, Stuttgart: Ernst Klett Verlag GmbH. 3

Fähigkeit, die Perspektiven anderer zu übernehmen und das eigene Verhalten an den Erwartungen anderer in der sozialen Umwelt auszurichten.“4 Es übernimmt in diesen Spielen also die Rollen von „wichtigen Repräsentanten der Gesellschaft. ... Mead nennt sie signifikante Andere“.3 Der darauffolgende zweite Schritt ist das ‚game’, bei dem noch mehr Rollen eingenommen werden und das Kind einen Überblick darüber bekommt, wie sich das eigene Verhalten auf eine Gruppe auswirkt und wie man so zu einem Gruppenziel betragen kann. Es lernt, dass unangebrachtes Verhalten den gesellschaftlichen Ausschluss als Konsequenz haben kann und erweitert sein Spiel vom „sozialen Nahbereich“3 auf „verallgemeinerte Andere“.3 Entscheidend ist es hierbei klare Regeln der Gesellschaft zu verinnerlichen und sie im Verlauf als die eigenen wahrzunehmen (vgl. Abels, S. 30)3. Wichtig in der Findung der Identität des Kindes ist aber auch die Auseinandersetzung mit den Verallgemeinerungsprozessen im realen Alltag des Individuums. Zur Verdeutlichung wird an dieser Stelle gerne das Beispiel der verschütteten Suppe genannt. Spielt ein Kind beim Mittagstisch mit seinem Essen, dann ist seine Mutter böse und schimpft. Das Kind nimmt den Ärger wahr und nach wiederholtem Vorkommen realisiert es, dass die Mutter es nicht mag, wenn es mit dem Essen spielt und so die Suppe verschüttet. Damit diese Erkenntnis aber zu einer allgemeinen Norm für das Kind wird, bedarf es zusätzlich dem Schimpfen von weiteren Instanzen, wie zum Beispiel des Vaters oder der Oma. Über diese Schritte erlangt das Kind Erkenntnis über die generelle Gültigkeit der negativen Konsequenz (vgl. Eickelpasch S. 29).4

Me and I – die zwei Seiten des selbst Nach Mead unterscheidet man zwischen zwei Seiten des ‚Ichs’ bzw. der Innenwelt eines jeden Individuums. Die „impulsive“3 Seite nennt er ‚I’, die zweite, „reflektierte“3 Seite bezeichnet er als ‚me’. Das Zusammenspiel der beiden Seiten formt die „Identität“3 jedes einzelnen und kontrolliert seine Äußerungen, sein Handeln und seine Ansichten. 4

„Individuelle Identität wird bei Mead nicht als Zustand oder Eigenschaft, sondern als ein Prozess konzipiert, in dem Impulse der individuellen Spontaneität und gesellschaftliche Verhaltenserwartungen ausbalanciert werden.“2 Im Folgenden werde ich die zwei kontrastierenden Seiten der Identität kurz vorstellen und erläutern. Auf der einen Seite sorgt das ‚I’ dafür, dass wir nicht alle identisch sind und agieren. Es verleiht uns Individualität, indem es unsere Triebe, unser Verlangen nach Bedürfnisbefriedigung und unsere spontanen Wünsche verkörpert. „Das impulsive Ich ist vorsozial und unbewusst.“3 Es konzentriert sich also auf eigene Beweggründe und beschäftigt sich nicht mit einem eventuellen Gruppenziel. In Bezug auf den vorherigen Abschnitt könnte man sagen, dass das impulsive Ich vor der Perspektivenübernahme die Handlungen des Individuums regiert. Das Kind hat zu diesem Zeitpunkt noch kein Verständnis für die Wirkung seiner Handlungen auf die signifikanten Anderen und handelt egozentrisch, um „sinnliche und körperliche Bedürfnisse spontan auszudrücken“3. Ginge man davon aus, dass der Mensch nur diese eine Seite des Ichs besäße, dann würde eine Realisierung einer Gesellschaft in unserer Form schwierig. Alle würden egoistisch nach ihren Vorlieben und Bedürfnissen handeln und der gesellschaftliche Konsens würde verloren gehen. Daher existiert die zweite Seite des Ichs, die sich das Kind durch die Perspektivenübernahme angeeignet hat und die die spontane, egoistische Seite der Identität zurückhält und sie daran erinnert, was die signifikanten Anderen in der jeweiligen Situation von ihr erwarten – das ‚me’. Es handelt sich hierbei um eine „Seite zugewiesener Identität“3, die gesellschaftlich geprägt ist. Sie „repräsentiert die gesellschaftlichen Dimensionen der Identität“ und „die diversen internalisierten Haltungen Anderer dem Individuum gegenüber“.3 Beide Seiten formen und vervielfältigen sich im Verlauf eines Lebens, indem sich auf der Seite des ‚I’ die Bedürfnisse verschieben und auf der Seite des ‚me’ neue 5

Erfahrungen mit den signifikanten Anderen der Gesellschaft gemacht werden. Außerdem ändern sich mit zunehmendem Alter die Erwartungen der Gesellschaft und die Rollen in den man sich als Individuum befindet. Auch diese veränderten Erwartungen führen zu einer Weiterentwicklung der Identität (vgl. Abels S. 35)3. Im obigen Zitat wird davon gesprochen, dass sich beide Seiten ausbalancieren, was suggeriert, dass beide Seiten ausgewogen und gleich stark sind. Allerdings „reagiert das spontane Ich auf die vielen reflektierten Ichs widerständig und verändernd; die reflektierten Ichs sind eine permanente soziale Kontrolle des spontanen Ichs.“ Wie stark die eine oder die andere Seite des Ichs ausgeprägt ist, kann also von Individuum zu Individuum schwanken und kreiert so unterschiedliche Charaktere. Auch die unterschiedlichen kulturellen Einflüsse in den Gesellschaften der Welt beeinflussen die Individuen, die in ihr leben auf unterschiedliche Art und Weise. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass nach Mead eine Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft, die ihn umgibt, essentiell ist. Er geht davon aus, dass man sich nur durch die Reaktion der anderen finden kann, also durch die eigene Verobjektivierung und „Spiegelung in der Außenwelt“4. Die Beschäftigung mit der eigenen Wirkung auf andere und die Anpassung an deren Erwartungen formen und ‚zähmen’ die spontane und egozentrische Innenwelt jedes einzelnen. Denn handelt man wider der gesellschaftlichen Erwartungen, kann dies zum sozialen Ausschluss führen. Der Stellenwert der Perspektivenübernahme in der Entwicklung eines Kindes ist dem entsprechend als hoch zu bewerten und einzuordnen. Der Erwerb dieser Kompetenz führt dazu, gesellschaftlich lebensfähig und anerkannt zu werden.

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