„Das Wunderkind“ von Thomas Mann Soziale Stellungen im Publikum und ihr Verhältnis zum Künstler PDF

Title „Das Wunderkind“ von Thomas Mann Soziale Stellungen im Publikum und ihr Verhältnis zum Künstler
Author Sarina Janik
Course Aufbaumodul Spezialisierung Literaturwissenschaft 2
Institution Universität Potsdam
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Hausarbeit...


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Universität Potsdam Philosophische Fakultät

Hausarbeit zum Seminar: „Musikalische Künstlerfiguren von der Romantik bis zur Postmoderne“ Wintersemester 2016/2017 Abgabedatum 30.03.2017 Wörteranzahl: 3272 Modul: Aufbaumodul Literatur, Medien, Kultur Prüfungsordnung 2014

„Das Wunderkind“ von Thomas Mann Soziale Stellungen im Publikum und ihr Verhältnis zum Künstler

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung.........................................................................................................2 2. Verhältnis zwischen Künstler und Publikum....................................................2 3. Analyse einzelner Positionen aus dem Publikum unter Berücksichtigung ihrer sozialen Stellung................................................5 a) Die Klavierlehrerin.......................................................................................6 b) Der Kritiker...................................................................................................7 c) Der jüdische Geschäftsmann und die drei adeligen Geschwister................8 4. Zusammenfassung/Fazit................................................................................11

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Einleitung Das Wunderkind von Thomas Mann wurde 1903 verfasst und erschien am 25.12.1903 in der Neuen Freien Presse.1

Es handelt sich

um eine Auftragsarbeit für die

Weihnachtsnummer der Zeitschrift, die er allein des Geldes wegen verfasste, wie er in einem Brief an Opitz (1903) zugibt.2 Das Werk geht auf ein reales Erlebnis zurück. 3 Thomas Mann bezeichnete es selbst als „liebste Skizze“ unter seinen kleinen Sachen.4 Im Folgenden soll das Verhältnis zwischen dem Künstler Bibi Saccellaphylaccas und seinem Publikum genauer analysiert werden. Dabei geht es vor allem um den sozialen Aspekt der einzelnen Positionen, die vorgestellt werden, um deren Verständnis und Wahrnehmung der Musik, die ihnen präsentiert wird und, nicht zuletzt, um Thomas Manns eigenes Verhältnis zur Kunst und die Mittel, die er nutzt, um die sozialen Gruppen voneinander abzugrenzen. Wie schafft es das Wunderkind sein Publikum zu beeinflussen? Wie weit geht die Verständnisgabe des Publikums oder hat es ganz andere Vorstellungen und Ansprüche an die Darbietung? Welche Einstellungen lassen sich mit Thomas Mann selbst in Verbindung bringen?

Verhältnis zwischen Künstler und Publikum Die Handlung geht über etwas mehr als eine Stunde; dabei gibt es drei Abschnitte: Der erste besteht aus der Stille im Saal, bevor das Konzert beginnt; es folgt die Vorstellung des Wunderkindes und sein Konzert; zum Schluss erfolgt der Applaus und es werden noch einige Einzelszenen aneinander gereiht.5 Das Geschehen wird aus innerer Sicht der einzelnen Figuren geschildert, dabei werden sowohl persönliche Gedanken und Gefühle, als auch gegenseitiges Beobachten offen gelegt.6 Es entsteht der Eindruck eines Publikums, das vor allem unterhalten und fast schon betört werden will, das dem Alltag entfliehen möchte und weniger auf die Details der Musik achtet, als sich viel mehr von der Sensation und der Reklame beeindrucken lässt. Es will weder hinter die Kulissen des 1 Vgl. Brössel, Stephan. 2015: Das Wunderkind. In: Blödorn, Andreas; Marx,Fredhelm (Hrsg.): Thomas Mann. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler. S. 108. 2 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005: Positives Außenseitertum: Thomas Manns Wunderkind als Geliebter Apolls. www.thomasmann.de/sixcms/media.php/471/Das Wunderkind.pdf. 3 Ebd. 4 Vgl. Brössel, Stephan. 2015. S. 108 5 Ebd. S. 108 6 Vgl. Mallepree, Damian. 2009: Basis-Interpretation: Praktische Anwendung auf Thomas Manns Erzählung Das Wunderkind. www.mythos-magazin.de/methodenforschung/dm-mann.pdf.

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Spektakels schauen, noch dessen tieferen Sinn begreifen und es sieht sogar über einige offensichtliche Lügen hinweg, die durch den Reklameapparat verbreitet wurden. „Sie haben noch nichts gehört, aber sie klatschen Beifall; denn ein gewaltiger Reklameapparat hat dem Wunderkinde vorgearbeitet, und die Leute sind schon betört, ob sie es wissen oder nicht.“ Dabei

halten

sich

alle

Figuren

an

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die

impliziten

Rahmenbedingungen

eines

Konzertabends; es geschieht nichts Unerhörtes oder Unvorhergesehenes; kein Verbot wird gebrochen.8 Dennoch erhält man Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt des Publikums. Dies wird möglich durch die Erzählerinstanz. Das Geschehen wird zu Beginn überwiegend von außen geschildert, doch es wird schnell deutlich, dass der Erzähler selbst einer der Zuschauer ist.9 „Klatscht! Klatscht! Wartet, nun ziehe ich meine Handschuhe aus. Bravo, kleiner Saccophylax oder wie du heißt-!“

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Dennoch hat er Zugang zur Gedanken- und Gefühlswelt der Textfiguren und man könnte annehmen, dass er das Publikum nur aus seiner Perspektive beobachtet und auf deren Gedanken schließt. Er betrachtet das Publikum ironisch distanziert, versetzt sich zunächst in die Perspektive des Wunderkindes und später in einzelne Positionen aus dem Publikum.11 Er scheint dabei ausgenommen von den übrigen Zuschauern betrachtet werden zu müssen, da er als einziger ehrlich begeistert von der Darbietung zu sein scheint.12 Die Wirkung des Protagonisten Bibi Saccellaphylaccas ist die eines engelsgleichen Jungen mit langem schwarzen Haar, der in weiße Seide gekleidet ist. 13 Er weist sowohl männliche als auch weibliche Attribute auf; auch sein Vorname ist nicht eindeutig zuzuordnen.14 Der gesamte Name verweist auf das ferne Griechenland und unterstreicht den Gegensatz von der „tanzenden Leichtigkeit des Südens“ und dem „nordeuropäischen

7 Mann, Thomas. 2008: Das Wunderkind. In: Reed, Terence (Hrsg.): Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912. Frankfurt/Main: S Fischer Verlag. Band 2.1. S. 396 8 Vgl. Brössel, Stephan. 2015: Das Wunderkind. In: Blödorn, Andreas; Marx,Fredhelm (Hrsg.): Thomas Mann. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler. S. 108 9 Ebd. S.108 10 Mann, Thomas. 2008. S. 400 11 Vgl. Mallepree, Damian. 2009: Basis-Interpretation: Praktische Anwendung auf Thomas Manns Erzählung Das Wunderkind. www.mythos-magazin.de/methodenforschung/dm-mann.pdf. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd.

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Geist der Schwere“.15 Der Nachname bedeutet soviel wie „Hüter des Schatzes“.16 Man kann also darauf schließen, dass nur Bibi selbst den wahren Kern seiner Kunst begreift; das europäische Publikum hat keinen Zugriff darauf. Tobias Kurwinkel analysiert Bibi als positiven Außenseiter im Gegensatz zu den Leuten im Publikum, die als eine Art Hydra mit zahlreichen Köpfen (den „Leutehirnen“) betrachtet werden können; dabei ist jeder Kopf der Hydra isoliert von den anderen und gedenkt seiner persönlichen Unfähigkeit gegenüber dem Künstler. 17 Die Leute werden somit zu einem weiteren Protagonisten, der verbunden mit dem Reklameapparat und dem Impresario, die Erzählung trägt.18 Das Wunderkind wandelt sich bei genauerer Betrachtung vom Musiker zum Schauspieler, da es durch seine bewusste Ausdruckskraft das Publikum beeinflusst.19 Auch die Farbwahl von Bibis Äußerem trägt zu seiner Außergewöhnlichkeit bei; er wird verglichen mit dem Jesuskind oder einem jungen Gott.20 Seine griechische Herkunft sowie die MeeresMetapher, die Lorbeerkränze und die Lyra aus Veilchen verweisen auf die Mythologie. 21 Das Meeresmotiv unterstreicht die rauschend-dionysische Tanzgewalt der Musik und den Künstler, der diese Gewalten beherrscht.22 Auch das Element der Lüge spielt eine wichtige Rolle, die bei Kurwinkel allerdings nicht negativ bewertet, sondern als moderne Kunst, die das Publikum mit erweiterten Mitteln überzeugen kann, verstanden wird. 23 „Ein wenig Lüge, denken sie, gehört zur Schönheit. Wo, denken sie, bliebe die Erbauung und Erhebung nach dem Alltag, wenn man nicht ein bisschen guten Willen mitbrächte, fünf gerade sein zu lassen.“24 Der Gegensatz von Künstler und Publikum kommt in der Erzählung sehr gut zur Geltung; der Künstler Bibi versteht seine Musik und will bestimmte Stellen seiner Partitur hervorheben.25 „ 'Hört doch, nun kommt die Stelle, wo es nach Cis geht!' Und er lässt die 15 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005: Positives Außenseitertum: Thomas Manns Wunderkind als Geliebter Apolls. www.thomasmann.de/sixcms/media.php/471/Das Wunderkind.pdf. 16 Vgl. Reed, Terence (Hrsg.). 2008: Thomas Mann. Frühe Erzählungen 1893-1912. Kommentar. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag. Band 2.2. S. 276. 17 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Vgl. Mallepree, Damian. 2009: Basis-Interpretation: Praktische Anwendung auf Thomas Manns Erzählung Das Wunderkind. www.mythos-magazin.de/methodenforschung/dm-mann.pdf. 22 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005 23 Ebd. 24 Mann, Thomas. 2008: Das Wunderkind. In: Reed, Terence (Hrsg.): Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912. Frankfurt/Main: S Fischer Verlag. Band 2.1. S. 397. 25 Vgl. Mallepree, Damian. 2009

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Verbindung spielen, indes es nach Cis geht. 'Ob sie es merken?' Ach nein, bewahre, sie merken es nicht!“ 26 Das Publikum hingegen denkt nicht über die Musik nach, sondern lässt sich schlicht überwältigen. „Und darum vollführt er wenigstens einen hübschen Augenaufschlag zum Plafond, damit sie doch etwas zu sehen haben.“ 27 Es wird nur von Bibi selbst und dem Impresario durchschaut (und zum Teil vielleicht auch vom Erzähler); es ist dem Künstler und vor allem dem ganzen Reklameapparat unterlegen, was besonders deutlich wird, als es sich vom 'dümmsten' und 'leichtesten' Stück Bibis am meisten begeistern lässt.28 Die Kunst wird somit zur Dienerin der Masse.29

Analyse einzelner Positionen aus dem Publikum unter Berücksichtigung ihrer sozialen Stellung Die Gemeinsamkeit aller vorgestellten Figuren aus dem Publikum besteht in ihrer Auseinandersetzung mit dem Künstler und einem Abgleich mit dem eigenen Selbst. 30 Die Bewertung, die die einzelnen „Leute“ vornehmen, wird beeinflusst durch ihre eigene Vergangenheit, ihr Wissen und Erleben, ihre Belange und Wünsche.31 Dabei verharren sie in ihrer Welt und das Verständnis der Musik bleibt ihnen verschlossen. 32 Stephan Brössel unterscheidet zwei Wahrnehmungssphären des Publikums: Die bewusste Aufnahme der Kunst, die sowohl das Kunstverständnis als auch die Leidenschaft beinhaltet, und das eigene Verhältnis zum Künstler.33 Im folgenden sollen nun einige der Publikumsfiguren näher betrachtet werden.

26 Mann, Thomas. 2008: Das Wunderkind. In: Reed, Terence (Hrsg.): Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912. Frankfurt/Main: S Fischer Verlag. Band 2.1. S. 402. 27 Ebd. S. 402 28 Vgl. Mallepree, Damian. 2009: Basis-Interpretation: Praktische Anwendung auf Thomas Manns Erzählung Das Wunderkind. www.mythos-magazin.de/methodenforschung/dm-mann.pdf. 29 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005: Positives Außenseitertum: Thomas Manns Wunderkind als Geliebter Apolls. www.thomasmann.de/sixcms/media.php/471/Das Wunderkind.pdf. 30 Vgl. Brössel, Stephan. 2015: Das Wunderkind. In: Blödorn, Andreas; Marx,Fredhelm (Hrsg.): Thomas Mann. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler. S. 108. 31 Ebd. S. 108 32 Vgl. Mallepree, Damian. 2009 33 Vgl. Brössel, Stephan. 2015. S. 108f

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a) Die Klavierlehrerin Die Klavierlehrerin wird als ältere Dame mit scharfem Verstand beschrieben, deren Lebensfreude aber bereits nachgelassen hat und man gewinnt schnell den Eindruck, dass sie sehr darauf bedacht ist, ihren Stand zu wahren. Sie versucht die Darbietung auf ihr theoretisches Wissen herunterzubrechen und sucht gezielt nach technischen Fehlern beim Wunderkind. „ (…) 'Übrigens ist seine Handhaltung vollständig unerzogen. Man muß einen Taler auf den Handrücken legen können... Ich würde ihn mit dem Lineal behandeln.'“

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In ihrem Gedankengang offenbart sich ein gewisser Zugang zur Musik, allerdings hebt dieser dennoch auf die Kritik des Künstlers ab.35 Es scheint, als könne sich die Klavierlehrerin nicht damit abfinden, dass ein Kind sehr viel erfolgreicher und talentierter ist, als sie es jemals war; sie erwartet von sich selbst, Mängel festzustellen, da sie glaubt als Lehrerin müsste sie die größte Erfahrung haben. Weiterhin überlegt sie, was sie später über den Konzertabend äußern könnte, das sie in ihrer Stellung nicht herabsetzt; sie entscheidet sich, streng und kritisch zu sein, wie es von ihr erwartet wird. „ (…) 'Ich werde nachher äußern: „Er ist wenig unmittelbar.“ Das klingt gut.'“

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Außerdem achtet sie darauf, dass ihre Äußerung auch von anderen wahrgenommen wird; man könnte also meinen, sie suche nach Bestätigung in ihrer Rolle. „Irgendwo steht die Klavierlehrerin unter Bekannten und hält Kritik. 'Er ist wenig unmittelbar', sagt sie laut und sieht sich um....“ 37 Thomas Mann beschäftigte sich selbst ausgiebig mit der Musik. 38 Er lernte Violine und auch Klavier spielen, schaffte es aber qualitativ nicht zum Musiker.39 Er erweiterte seinen Musikhorizont durch Konzertbesuche, Radiohören und Verkehr mit Musikern. 40 Sein Verhältnis zur Musik war dennoch eher rezeptiv und ästhetisch literarisch. 41 Er verließ sich dabei hauptsächlich auf sein Gehör und hatte weniger Sinn für die Musiktheorie, wodurch 34 Mann, Thomas. 2008: Das Wunderkind. In: Reed, Terence (Hrsg.): Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912. Frankfurt/Main: S Fischer Verlag. Band 2.1. S. 403. 35 Brössel, Stephan. 2015: Das Wunderkind. In: Blödorn, Andreas; Marx,Fredhelm (Hrsg.): Thomas Mann. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler. S. 109. 36 Mann, Thomas. 2008. S. 403 37 Mann, Thomas. 2008. S. 405f 38 Vgl. Windisch-Laube, W. 1990: Thomas Mann und die Musik. In: Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas – Mann – Handbuch. Stuttgart: Kröner Verlag. S. 336. 39 Ebd. S. 337 40 Ebd. S. 336f 41 Ebd. S. 337

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man ihm eine eher negative Haltung gegenüber der Klavierlehrerin zuschreiben könnte; er scheint sich hier mehr mit der Erzählerinstanz zu identifizieren.42 Er gehörte zu den musikerlebenden Hörern mit einer außerordentlichen Sensibilität und wollte das Hören mit dem Lesen vereinen.43 Er wollte seine Werke musikalisieren und setzt daher (wie auch im Wunderkind) häufig Musikbeschreibungen und musikalische Verlaufsschilderungen ein. 44

b) Der Kritiker Die Beschreibung des Kritikers ist die eines ebenfalls alternden Mannes, der mit seiner schmutzigen Kleidung etwas nachlässig wirkt. Er scheint Bibi als Künstler zu akzeptieren und auch etwas beeindruckt von ihm zu sein, allerdings kann er es sich in seiner Stellung als Kritiker nicht erlauben, so zu denken. Für Tobias Kurwinkel ist er eine satirische Charakterisierung des Musikkritikers allgemein, der über die Natur des Künstlers reflektiert.45 „ 'Man sehe ihn an, diesen Bibi, diesen Fratz! Als Einzelwesen hat er noch ein Ende zu wachsen, aber als Typus ist er ganz fertig, als Typus des Künstlers. Er hat in sich des Künstlers Hoheit und seine Würdelosigkeit, seine Charlatanerie und seinen heiligen Funken, seine Verachtung und seinen heimlichen Rausch. (...)'“

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Die Konzentration des Kritikers liegt allein auf Bibi; er durchschaut dabei aber nicht den künstlerischen Inhalt, sondern nur die sensationshaschende Darbietung. 47 Durch seine genaue Kritik ist er isoliert wie all die anderen „Leute“, seine 'Hellsichtigkeit' bewahrt ihn aber außerdem vor allen Fantasien und er kann an der Kunst keinen Anteil nehmen.48 „ '(…) Ach, glaubt mir, ich wäre selbst ein Künstler geworden, wenn ich nicht das alles zu klar durchschaute...'“49 Er trägt allerdings durch seine Rolle als Kritiker, und somit als Anteil der Reklame, zur Fundierung der Außenseiterposition Bibis bei.50 42 Vgl. Windisch-Laube, W. 1990: Thomas Mann und die Musik. In: Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas – Mann – Handbuch. Stuttgart: Kröner Verlag. S. 337. 43 Ebd. S. 338 44 Ebd. S. 339 45 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005: Positives Außenseitertum: Thomas Manns Wunderkind als Geliebter Apolls. www.thomasmann.de/sixcms/media.php/471/Das Wunderkind.pdf. 46 Mann, Thomas. 2008: Das Wunderkind. In: Reed, Terence (Hrsg.): Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912. Frankfurt/Main: S Fischer Verlag. Band 2.1. S. 403f. 47 Vgl. Brössel, Stephan. 2015: Das Wunderkind. In: Blödorn, Andreas; Marx,Fredhelm (Hrsg.): Thomas Mann. Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Verlag J. B. Metzler. S. 109. 48 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005 49 Mann, Thomas. 2008. S. 404 50 Vgl. Kurwinkel, Tobias. 2005

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Die Zeitung war zu Anfang des 20. Jahrhunderts bereits zum Massenmedium geworden und für jedermann zugänglich.51 Die Vermarktung von Buch, Zeitung und Zeitschrift spielte eine tragende Rolle, denn der Markt selbst (also das bürgerliche Lesepublikum) übernahm die Verbreitung und Diskussion des Geschriebenen. 52 Es gab Magazine für jeden Themenbereich: Theater, Oper, Tanz und Musik; es entwickelte sich also ein gewisser Anspruch an die Schreiber.53 Genau wie bei dem Konzertabend gehörten nicht nur die Oberschicht sondern auch die untere Mittelschicht zum Publikum und alle Konsumenten mussten entsprechend bedient werden. Die Pressefreiheit übte einen zusätzlichen Druck auf die Journalisten aus; sie waren Kämpfer und hatten zugleich eine erzieherische Funktion.54 Das Publikum verlangte auch hier, unterhalten zu werden und außerdem mussten bestimmte Verkaufsstrategien angewandt werden.55 Dies alles könnten Gründe sein, die es dem Kritiker schwer machen, das Wunderkind angemessen abzubilden. „ '(…) Aber das darf ich nicht schreiben; es ist zu gut. (...)'“

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Er muss also die „Leute“ dort abholen, wo ihre Gedanken sie hingeführt haben, denn es ist seine Aufgabe alle „Leutehirne“ mit einer einzigen Kritik zufriedenzustellen. Er muss nicht nur das Spektakel um Bibi durchschauen, sondern auch sein Publikum. Nicht zuletzt seine schmutzige Kleidung lässt darauf schließen, dass dies keine einfache Aufgabe ist.

c) Der jüdische Geschäftsmann und die drei adeligen Geschwister Die Darstellung des jüdischen Geschäftsmannes erfolgt hier sehr klischeehaft. Die typisch jüdische Physiognomie (Papageiennase) und die Fixierung auf den Gewinn des Konzertabends scheinen hier zur eindeutigen Beschreibung eines Juden ausreichend zu sein.57 Die gedankliche Rechenoperation dient dazu als Untermalung. „ '(…) Es sind reichlich Plätze zu zwölf Mark verkauft; das macht allein sechshundert Mark – und dann alles übrige. Bringt man Saalmiete, Programme und Beleuchtung in Abzug, so bleiben gut und gern tausend Mark Netto. Das ist mitzunehmen.'“58 51 52 53 54 55 56

Vgl. Telesko, Werner. 2010: Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien. Wien, Köln, Wismar: Böhlau Ebd. S. 229f Ebd. S. 232 Ebd. S. 233ff Ebd. S. 237 Mann, Thomas. 2008: Das Wunderkind. In: Reed, Terence (Hrsg.): Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912. Frankfurt/Main: S Fischer Verlag. Band 2.1. S. 404. 57 Vgl. Reed, Terence (Hrsg.). 2008: Thomas Mann. Frühe Erzählungen 1893-1912. Kommentar. Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag. Band 2.2. S. 277. 58 Mann, Thomas. 2008: Das Wunderkind. In: Reed, Terence (Hrsg.): Thomas Mann. Früher Erzählungen 1893-1912.

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Nach Thomas Mann seien weitere typische Merkmale eines Juden der Fettbuckel, krumme Beine, rote mauschelnde Hände, ein leidvoll unverschämtes Wesen sowie ein generell fremdartiger Aspekt, wie er 1907 in Die Lösung der Judenfrage schreibt.59 Er bedient diese Klischees in seinen Werken, obwohl er selbst klar herausstellt, dass er grundsätzlich ein Freund der Juden ist.60 Auch der jüdische Geschäftsmann scheint den tieferen Sinn der Musik nicht zu erfassen und erfreut sich stattdessen der schön anzusehenden Darbietung und der Abwechslung, die diese in den grauen Alltag bringt. „ 'Ja freilich, das bringt ein bißchen Schimmer ins Leben, ein wenig Klingklang und weiße Seide.'“ 61 Es wird hier also sehr klischeehaft dargestellt, dass er in seiner Stellung als Geschäftsmann, der sich nur mit der irdischen Zahlenwelt beschäftigt und als Jude auch keine kulturelle Bildung hat, den tieferen Sinn der Kunst nicht begreifen könne. Ähnlich klischeehaft ist es bei den drei adeligen Geschwistern, die zwar...


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