VL Reformationsgeschichte Einheit 5 PDF

Title VL Reformationsgeschichte Einheit 5
Course Reformationsgeschichte
Institution Universität Augsburg
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Vorlesung „Reformationsgeschichte“ WS 2021/22 (Prof. Oberdorfer)

Einheit 5 3. Der Ablassstreit und seine Konsequenzen „Hatte Luther sich seit Übernahme der Wittenberger Professur in äußerer Ruhe konzentriert seinen Pflichten als akademischer Lehrer widmen können, so riss ihn die Auseinandersetzung, die mit der Veröffentlichung der 95 Thesen begann, jäh und ein für alle Mal aus der Abgeschiedenheit seiner Studierstube heraus und zwang ihn, zahlreiche Kämpfe auszufechten.“1 Mit seinen Thesen gegen den Handel mit Ablassbriefen griff Luther nicht nur eine wichtige Säule des kirchlichen Finanzierungssystems an (der Bau des Petersdoms in Rom etwa wurde ja durch einen speziellen „Petersablass“ finanziert), sondern brachte faktisch auch das ausbalancierte Gefüge des kirchlichen Bußwesens ins Wanken. Anlass waren u.a. Luthers Erfahrungen als Beichtvater. Im Kurfürstentum Sachsen selbst durften die Ablassprediger nicht tätig werden. Die Landeskinder mussten aber nur wenige Kilometer zurücklegen, um im Nachbarterritorium Ablassbriefe kaufen zu können. Zurückgekehrt, eröffneten sie ihren Pfarrern in der Beichte, dass sie die erforderlichen Bußleistungen schon erbracht hätten, ja dass ihnen auf Grund der Ablasszahlungen die Sünden bereits vergeben seien. Luther hielt dies zunächst für ein Missverständnis theologisch schlecht informierter Gemeindeglieder, gefördert allenfalls durch die Verkündigung inkompetenter untergeordneter Ablassprediger; denn es entsprach in dieser Form nicht der kirchlichen Lehre vom Ablass. 1517 bekam er aber den Ausführungserlass des Erzbischofs Albrecht von Mainz für den Ablass im Bistum Magdeburg in die Hände. Daran erkannte er, dass die Praxis, die er kritisierte, von ‚ganz oben‘ gedeckt war. Am 31. Oktober 1517 schrieb er daher – unter Hinweis auf seine Funktion als „berufener Doktor der Theologie“2 – einen Brief3 an den Erzbischof, in dem er diesen an seine Verantwortung für die ihm anvertrauten Christen erinnert und ihn auffordert, „seine Anweisung 1 2 3

Lohse, Martin Luther, 41. Schwarz, Luther, I 45. WAB 1, 108ff.

für die Ablasspredigt zurückzuziehen und den Ablasspredigern eine andere Predigtvorschrift zu geben.“4 Dem Brief beigefügt sind 95 Thesen, „denen Albrecht entnehmen könne, wie zweifelhaft jene Meinung (opinio) vom Ablass sei, die von den Ablasspredigern als äußerst sicher verbreitet werde.“5 bekanntlich der Beginn der Reformation datiert. Es ist in der Forschung umstritten, ob Luther jene Thesen tatsächlich an die Tür der Wittenberger Schloss- und Universitätskirche angeschlagen hat, und wenn ja, ob dies an diesem Tag geschah.6 Alles in allem spricht einiges dafür, dass er diesen üblichen Weg der Einladung zur akademischtheologischen Disputation (Ankündigung am ‚schwarzen Brett‘) tatsächlich gewählt hat. Entscheidend ist dies freilich nicht. Wichtiger ist, dass die Thesen, die als solche ja nur für die sehr enge akademische Öffentlichkeit gedacht waren, sehr schnell breite Aufmerksamkeit fanden und nachgedruckt wurden, bald sogar in deutscher Übersetzung. Dies zeigt, dass Luthers Überlegungen „einen latenten Verdruss aufdeckten und an den Nerv der herrschenden Religiosität rührten“7. 3.1. Unheilsfolgenökonomie: Der Ablass Was ist der Ablass?8 Der Ablass gehört in den Zusammenhang des Bußsakraments, und wir müssen uns deshalb Grundzüge der mittelalterlichen Bußtheologie vergegenwärtigen. Die Buße hatte nach dieser Konzeption eine Voraussetzung und drei Teilaspekte. Die Voraussetzung ist die Reue, also das Bewusstsein, Gott Unrecht getan zu haben, und das daraus erwachsende Begehren nach Sündenvergebung und Versöhnung. Dabei wird unterschieden zwischen attritio, „Furchtreue“, und contritio, „Herzensreue“. In der Furchtreue bereue ich nur aus Angst vor der Höllenstrafe, erst in der Herzensreue bedaure ich aufrichtig und ‚um Gottes willen‘, Gott durch Übertretung seiner Gebote beleidigt zu haben. Erst die Herzensreue ist die angemessene Voraussetzung für das Bußsakrament. Die drei Teile des Bußsakraments sind dann Beichte (confessio oris), Absolution (Vergebungszuspruch durch den Priester, absolutio) und Genugtuungsleistung (satisfactio). Letztere besteht darin, dass der Priester dem Sün4 5 6

Schwarz, Luther, I 45. Ebd. Der früheste Beleg für einen „Thesenanschlag“ ist eine Äußerung Melanchthons aus der Zeit nach Luthers Tod; und Melanchthon war im Herbst 1517 noch gar nicht in Witte nberg. Vgl. Schwarz, Luther, I 46. 7 Schwarz, Luther, I 46. 8 Vgl. dazu die klare Darstellung bei Reinhard Schwarz: Luther, Göttingen 1986 (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 3, Lieferung I), I 41–44.

der bestimmte zusätzliche, d.h. über die ohnehin verpflichtende Gebotserfüllung hinaus gehende Leistungen auferlegt, etwa Gebete, Fasten, Wallfahrten. Man spricht von „zeitlichen Sündenstrafen“. Diesem Modell liegt der Gedanke zu Grunde, dass „im Bußsakrament mit der Vergebung der Sündenschuld zwar die ewige Sündenstrafe der Verdammnis, jedoch nicht die zeitliche Sündenstrafe ganz erlassen (sei). Dem Gläubigen bleibt das Bewusstsein, dass er mit gewissen zeitlichen Sündenstrafen noch der Gerechtigkeit Gottes Genüge leisten muss.“9 Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass Gott durch die Sünde beleidigt, in seiner Ehre gekränkt ist. Die Absolution vergibt zwar unzweideutig die begangene Sünde und versetzt den Sünder in den Stand ewigen Heils. Der Sünder muss aber zusätzlich Gott eine Art Schadensersatz leisten für die ihm angetane Ehrverletzung. Es gibt nun im Wesentlichen drei Arten von „zeitlichen Sündenstrafen“: einmal die genannten von der Kirche in der Beichte auferlegten frommen Zusatzwerke (kirchliche Bußstrafen); ferner Einschränkungen der Lebensqualität wie „Krankheit, Krieg und Hungersnot“10, die als von Gott auferlegte Sündenstrafen aufgefasst werden; schließlich nach dem Tod die von Gott bestimmte Läuterungszeit im Fegefeuer (lateinisch purgatorium, also ‚Ort der Reinigung‘). Gerade Letztgenanntes zeigt den reinigenden und pädagogischen Charakter, den die zeitlichen Sündenstrafen neben dem satisfaktorischen Moment haben sollten. Die Sünden haben gleichsam eine den Menschen nachhaltig prägende schädliche Wirkung, die durch die Sündenvergebung nicht gewissermaßen im Nu aufgehoben wird. Ich vergleiche das gern mit einem Raucher, der das Rauchen aufgibt: In seinem Körper verschwinden die Spuren der langen Nikotinzufuhr ja auch nicht sofort, sondern erst nach und nach und bleiben noch lange erkennbar. Etwas vereinfacht kann man nun sagen: Durch die zeitlichen Sündenstrafen werden die Menschen in die Gestalt umgeformt, die ihnen in der Sündenvergebung zugesprochen ist. In dieser Gestalt sollen sie dann am Jüngsten Tag vor Gott dem Richter erscheinen und den ihnen jetzt zukommenden Freispruch empfangen. Insofern sind die Sündenstrafen Gnade und müssen von den Christen dankbar angenommen werden. Fegefeuer ist Gnade; man muss streng genommen hoffen, hinein zu kommen. Ein im Unglauben Gestorbener wird nämlich der Läuterung nicht gewürdigt; er wird im Zustand der Heillosigkeit vor Gott den Richter treten und zur ewigen Verdammnis verurteilt werden.

9 10

Schwarz, Luther, I 41. Schwarz, Luther, I 42.

Der Ablass betrifft nun nicht die Sündenvergebung selbst, sondern die genannten zeitlichen Sündenstrafen, also die von der Kirche oder von Gott selbst den Sündern auferlegten Bußleistungen resp. Reinigungsprüfungen und -leiden. Diese sind von der Sündenvergebung unterschieden und setzen die Sündenvergebung voraus; ohne sie kommt die Sündenvergebung aber nicht zu ihrem eigentlichen Ziel, nämlich der Umgestaltung und Vollendung der Person. „Im Ablass gewährt die Kirche nicht nur eine Entlastung von den kirchlichen Bußstrafen, sondern auch und in erster Linie eine Entlastung von der zeitlichen Sündenstrafe, die Gott den Menschen zugemessen hat.“11 Naturgemäß kann sich Letzteres nur auf den postmortalen Aufenthalt im Fegefeuer beziehen, da die Kirche auf Einschränkungen der Lebensqualität im irdischen Leben kaum Einfluss nehmen kann, jedenfalls nicht durch Ablassdekrete. Die Kirche kann Teil- oder Gesamtentlastung von den zeitlichen Sündenstrafen gewähren, weil sie über den sog. thesaurus ecclesiae, den „Schatz der Kirche“ verfügt; dieser besteht in den „überschüssigen Verdiensten Christi und der Heiligen“12, d.h. in der Summe der Leistungen, die Christus und die Heiligen im Verlauf der Kirchengeschichte über das durch die Gebote ohnehin Geforderte hinaus erbracht haben. Wie bei der satisfactio in der Buße ist also auch hier unterschieden zwischen regulärer Gebotserfüllung und ‚überpflichtigen‘ Werken. Dies gilt im Übrigen schon für das Verständnis des Versöhnungswerks Christi: Nicht Christi gebotsgemäßes Leben, sondern sein darüber hinaus freiwillig angenommenes Kreuzesleiden hat versöhnende und erlösende Bedeutung für die Menschheit. Das gebotsgemäße Leben ist nur die Voraussetzung dafür, dass Christus nicht für sich selbst Genugtuung leisten musste, sondern sein Selbstopfer ausschließlich anderen zugutekam. Das Verfügungsrecht über diesen Schatz haben die Bischöfe und der Papst (für Plenarablässe nur der Papst). Wer durch Ablass von diesem Schatz profitieren möchte, „muss sich im Gnadenstand befinden, er muss also dem Priester gebeichtet und von ihm die Absolution erhalten haben. Unter dieser Voraussetzung wird der Ablass in der Weise erteilt, dass vom Gläubigen ein bestimmtes Ablasswerk gewissermaßen als kleiner Ersatz für die größere nachgelassene zeitliche Sündenstrafe gefordert wird.“13 Der Gläubige erbringt also eine gewisse überpflichtige Leistung (in Gestalt von Gebeten, Wallfahrten, aber eben auch Geldzahlungen), und diese wird ihm von der Kirche mit einem ungleich höheren Gegenwert entgolten, nämlich mit dem 11 12 13

Ebd. Ebd. Schwarz, Luther, I 42.

teilweisen oder sogar gänzlichen Erlass der bisher angehäuften zeitlichen Sündenstrafen. In diesem Sinne ist der berühmt-berüchtigte Slogan des Ablasspredigers Tetzel zu verstehen: „Wenn der Taler im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“ Man braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, wie attraktiv die Verheißung gewirkt haben muss, einige Jahrhunderte Fegefeuer einzusparen, selbst wenn der zu zahlende Betrag im Moment durchaus schmerzen sollte, freilich auch, wie durch lebhaftes Ausmalen der bevorstehenden Fegefeuerqualen die Zahlungsbereitschaft erhöht werden konnte. Dies gilt umso mehr, als der Ablass auch für Andere, nämlich „für die im Fegefeuer leidenden Seelen verstorbener Gläubiger“14, erworben werden konnte. Dem moralischen Druck, der durch die Vorstellung entsteht, man könne durch Zahlungen die Leiden verstorbener Angehöriger verringern und verkürzen, diesem Druck konnte man sich wohl kaum entziehen. Ablässe gehörten nicht zum allzeit verfügbaren Normalrepertoire kirchlicher Gnadenausschüttung. Sie wurden zu bestimmten Anlässen ausgerufen. Auch diese – ökonomisch gesprochen – Verknappung des Angebots erhöhte natürlich den Druck; man musste aufpassen, die Gelegenheit nicht zu verpassen. Es ist gewissermaßen eine Sonderangebots-Logik: Das Angebot gilt nur für eine gewisse Zeit; wer das Zeitfenster verpasst, muss mit dem Normalpreis vorlieb nehmen. Der wichtigste Ablass zu Luthers Zeit war der sog. „Petersablass“. Ihn hatte Papst Julius II. (1503–1513) 1506 anlässlich der Grundsteinlegung zum Neubau des Petersdoms zum Zweck von dessen Finanzierung ausgeschrieben. Sein Nachfolger Leo X. (1513-1521) legte ihn mehrmals erneut auf, jeweils für eine bestimmte Zeit und beschränkt auf bestimmte Regionen. Die Durchführung wurde Kommissaren gleichsam als Subunternehmern übertragen. So autorisierte Papst Leo 1515 für acht Jahre einen Petersablass in den deutschen Kirchenprovinzen Magdeburg und Mainz, als Generalkommissar beauftragte er Albrecht von Brandenburg, der Erzbischof beider Diözesen war. Und hier beginnen nun finanzielle Verstrickungen, auf die es sich lohnt einen genaueren Blick zu werfen.15 Denn Albrecht hatte Schulden bei der Kurie, und im Zusammenhang mit dem Petersablass gab es Geheimabsprachen zwischen beiden, die der Herbeiführung einer – wie man heute sagen würde – „win-win-Situation“ dienen sollten. Die Schulden hatte Albrecht, weil es kirchenrechtlich unstatthaft war, gleichzeitig zwei Diözesen vorzustehen. Man konnte sich von diesem Verbot aber dispensieren lassen, gegen 14 15

Ebd. Vgl. dazu knapp und klar Schwarz, Luther, I 42 –44.

Zahlung von Dispensgebühren, die in diesem Fall 10.000 Dukaten betrugen. Außerdem hatte er sich dem Mainzer Domkapitel gegenüber bereit erklärt, die regulär bei Amtsantritt nach Rom abzuführenden Gebühren selbst zu zahlen; das waren noch einmal 14.000 Dukaten. Auch dem Kaiser stand eine Abgabe von gut 2.000 Dukaten zu. Dies alles finanzierte er durch einen Kredit bei den Fuggern in Höhe von 29.000 Dukaten. In den Geheimabsprachen wurde Albrecht nun von Rom zugesichert, er könne 50 % der Einnahmen aus dem Ablass für seinen eigenen Schuldendienst verwenden. Für Rom hatte das den Vorteil, dass der Bischof schon aus Eigeninteresse hochmotiviert sein würde, den Ablass ertragssteigernd durchzuführen; es war also begründet zu hoffen, dass der erhöhte Umsatz den abgetretenen Anteil ausgleichen würde. Und Albrecht konnte seine Schulden bedienen, ohne sein Eigenkapital antasten zu müssen. In der Praxis sah das dann so aus, dass auf den Ablasskampagnen immer Mitarbeiter der Fugger mitreisten, die Erlöse an sich nahmen, die eine Hälfte zur Tilgung von Albrechts Schulden für das eigene Haus einbehielten, die andere Hälfte ihrer ursprünglichen Bestimmung gemäß nach Rom transferierten. Der Öffentlichkeit war von diesem ‚Deal‘ nichts bekannt. Die Gläubigen waren überzeugt, dass alles, was sie für die Ablassbriefe hinlegten, vollständig dem Bau des Petersdoms zugutekommen werde. Auch Luther wusste zum Zeitpunkt, als er die 95 Thesen schrieb, nichts von diesen Geheimabsprachen. Sonst wäre sein Urteil vermutlich noch viel harscher ausgefallen. Aber auch so ließ es an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. 3.2. Bedingungslose Heilsausschüttung: Luthers Kritik am Ablass in den 95 Thesen Den entscheidenden Ton schlagen bereits die beiden ersten Thesen an16: „1. Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei. 2. Dies Wort kann nicht im Sinne der sakramentalen Buße verstanden werden (d.h. im Sinne der Beichte und Genugtuung, die durch das Amt der Priester vollzogen wird).“ Etwas salopp gesagt, ruft Jesus die Christen nicht dazu auf, möglichst häufig zum Beichten zu gehen und Satisfaktionsleistungen zu erbringen, sondern er sagt damit etwas Grundsätzliches über das christliche Leben überhaupt, was sich eben nicht eingrenzen lässt auf das kirchliche Ritual, und deshalb lässt die Buße sich nicht gleichsam quantifizieren und abarbeiten durch bestimmte, genau benennbare (von der Kirche benannte) Leistungen. 16

Ich zitiere hier wie im Folgenden nach der Übersetzung von Karin Bornkamm in: Bornkamm/Ebeling 1, 28–37 (vgl. die Vorbemerkung 26f).

Das heißt freilich nicht, dass Luther die Buße nunmehr als bloß innerliches Geschehen versteht, das keine äußere Wirkung zeitigt. Ausdrücklich betont er in These 3: „Dennoch meint es [sc. das Wort Jesu] nicht allein die innere Buße; vielmehr ist die innere Buße nichts, wenn sie nicht nach außen vielerlei Abtötung des Fleisches bewirkt.“ Das Wesen der Buße besteht in der „Feindschaft gegen sich selbst“, d.h. in dem Willen, den selbstzentrierten Neigungen des ‚Fleisches‘ entgegen zu wirken. Die „Strafe“ für die Sünde ist, dass das ‚Fleisch‘ sich in Gestalt der Anfechtung oder der Versuchung weiterhin bemerkbar macht und den Menschen zum Kampf zwingt; dieser Bußkampf endet nach Luther erst mit dem „Eintritt in das Himmelreich“ (Th. 4). Von dieser ‚Strafe‘ kann der Papst überhaupt nichts wegnehmen. Der Papst „kann keine anderen Strafen erlassen als die, die er nach seiner eigenen Entscheidung oder nach der des kanonischen Rechts auferlegt hat“ (Th. 5). Kirchliche Bußstrafen enden aber mit dem Tod.17 Von den drei vorhin genannten Arten zeitlicher Sündenstrafen (kirchliche Bußstrafen, von Gott gewirkte Einschränkung innerweltlicher Lebensqualität, postmortale Läuterungsleiden) erstreckt sich die päpstliche Verfügungsmacht also allenfalls auf die erste, die kirchlichen Bußstrafen.18 Deren Vermengung mit den postmortalen Fegefeuerstrafen wird aufgehoben. Wenn der Papst ‚Plenarablass‘, also Erlass aller angehäuften Fegefeuerstrafen, verheißt, dann ist das ein „prahlerische(s) Versprechen“ (Th. 24), das er erstens nicht einlösen kann und durch das er zweitens den „größte(n) Teil des Volkes“ (ebd.) betrügt, da der „Nachlass aller Strafen“ allenfalls „den Vollkommensten, d.h. den allerwenigsten, gewährt werden“ könne (Th. 23). Überhaupt droht der Ablass die Notwendigkeit wahrer Reue zu verdunkeln und vermittelt das verheerende Gefühl einer falschen Sicherheit, wofür Luther die stärksten Worte findet: „Auf ewig verdammt wird sein samt seinen Lehrmeistern, wer seiner Seligkeit durch Ablassbriefe sicher zu sein glaubt.“ (Th. 32) Die Ablassbriefe drohen als Alternative zur wahren Reue zu erscheinen. Aber es gilt: „Jeder Christ, der wahre Reue empfindet, hat vollkommenen Nachlass von Strafe und Schuld, auch ohne Ablassbriefe.“ (Th. 36) Luther bestreitet in den von ihm eng gezogenen Grenzen nicht die Legitimität eines Ablasses, er schärft aber ein, dass die Gewichtung zwischen einem solchen Ablass und der Verkündigung des Wortes Gottes, nämlich des Sünden vergebenden Evangeliums deutlich erkennbar bleiben muss: „Wenn 17

Vgl. Th. 13: „Die Sterbenden werden durch den Tod von allem frei; auch für die kanonischen Bestimmungen sind sie bereits tot und rechtsgültig von ihnen entbunden.“ 18 Vgl. Th. 34: „Denn die Ablassgnaden betreffen lediglich die Strafen der sakramentalen Genugtuung, die von Menschen festgesetzt sind.“

man den Ablass (der das Geringste ist) mit einer Glocke, einer Prozession und einem Gottesdienst feiert, so muss das Evangelium (das das Höchste ist) mit hundert Glocken, hundert Prozessionen, hundert Gottesdiensten gepredigt werden.“ (Th. 55) Mit großem Sarkasmus greift Luther die Lehre vom „Schatz der Kirche“ an, näherhin die Meinung, der Papst könne in Gestalt von Ablässen darüber verfügen. Zunächst gilt grundlegend: „Jeder wahre Christ, ob tot oder lebendig, hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche; Gott gewährt ihm dies auch ohne Ablassbriefe.“ (Th. 37) Dann aber ist auch „dem Volke Christi weder genau genug bezeichnet noch bekannt“ (Th. 56), worin denn dieser Schatz bestehen soll, aus dem der Papst mehr oder weniger freigiebig austeilen könnte. Maliziös bemerkt Luther: „Zeitliche Schätze sind es offensichtlich nicht, denn diese teilen viele Prediger nicht so freigebig aus, sondern häufen diese nur an.“ (Th. 57) Aber auch die „Verdienste Christi und der Heiligen“ können es nicht sein, „denn diese bewirken jederzeit ohne den Papst Gnade für den inneren Menschen sowie Kreuz, Tod und Hölle für den äußeren Menschen“ (Th. 58). Nach Luther ist der „wahre Schatz der Kirche (...) das hochheilige Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes“ (Th. 62), das Vergebung und Heil bewirkt bei dem, der daran glaubt. Im Glauben gewinne ich Anteil an diesem Schatz; einer quantifizierenden Zuteilung durch den Papst bedarf es dazu nicht. Luther unterstellt, dass mit der Behauptung eines dem Papst zur Verfügung stehenden „Schatzes der Kirche“ vorwiegend ökonomische Interessen befriedigt werden sollen. Denn: „Warum räumt der Papst das Fegefeuer nicht aus heiligster Liebe und um der höchsten Not der Seelen willen leer, also aus dem allertriftigsten Grunde, wenn er doch unzählige Seelen erlöst um des unseligen Geldes willen, das für den Bau der Peterskirche gegeben wird, also aus dem allerunwichtigsten Grunde?“ (Th. 82) Wenn es ihm wirklich um die Seelen und nicht um eigenen Vorteil zu tun ist, dann könnte der Papst, „dessen Reichtum heute größer ist als der des reichsten Crassus“, doch „wenigstens die eine Peterskirche lieber von seinem eigenen Geld als von dem der armen Gläubigen“ bauen (Th. 86)....


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