Die Symbolik in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel PDF

Title Die Symbolik in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel
Author Sarina Janik
Course Basismodul Literatur und Literaturgeschichte
Institution Universität Potsdam
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Hausarbeit...


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Universität Potsdam Philosophische Fakultät

Hausarbeit zum Seminar: „Einführung in die Narratologie anhand von Erzählungen des 19. Jahrhunderts“ Wintersemester 2016/2017 Wörteranzahl: 3843

Die Symbolik in Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel



Studiengang: Germanistik, BA Fachsemester: 5

Potsdam, den 27.03.2017

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung..................................................................................................................2 2. Einordnung des Werkes in den Naturalismus...........................................................2 3. Die Symbolik.............................................................................................................4 3.1 Allgemeines zum Symbolbegriff..........................................................................4 3.2 Die Eisenbahn und das Wärterhäuschen............................................................5 3.3 Die Natur und das Eichhörnchen.........................................................................7 3.4 Die Vision von Minna...........................................................................................9 4. Zusammenfassung/Fazit..........................................................................................11

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Einleitung Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel entstand im Jahr 1887 und erschien ein Jahr später.1 Das Werk gilt als sein erster literarischer Erfolg. 2 Dabei ließ er sich stark von Büchners Lenz inspirieren.3 In dieser Arbeit soll es um die Symbolik gehen, die Hauptmann in seinem Werk verwendet hat und um die Wirkung, die diese beim Leser erzielt. Nach Fritz Martini verknüpfen die Symbole die Erzählung zu einem einheitlichen dichterischen Sinngefüge. 4 Der Begriff der Symbolik soll geklärt und die einzelnen Bilder, die im Werk verwendet werden, untersucht und in den kausalen Zusammenhang eingeordnet werden. Außerdem sollen die naturalistischen Merkmale des Werkes beschrieben, sowie die Abweichungen der typischen Erzählweise herausgearbeitet und analysiert werden. Es scheint als nutze Hauptmann eine eher untypische Herangehensweise, die für die Epoche zum Teil unpassend sein könnte. Trägt diese Herangehensweise dazu bei, die kausale 'Studie' glaubwürdig zu gestalten oder entsteht dadurch Evidenz für eine finale Motivierung?

Einordnung des Werkes in den Naturalismus Der Naturalismus geht einher mit dem Realismus und kann zeitlich ab den späten 70er Jahren bis zur Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts eingeordnet werden. 5 Er strebt nach der Totalität des Lebens in der Vielfalt seiner künstlerischen, technischen und gesellschaftlichen Erscheinungsformen und umfasst dabei drei Hauptaspekte: Die politisch-soziale Wirklichkeit des Industriezeitalters, die naturwissenschaftlich-technische Realität der Epoche und die ästhetisch-künstlerische Konzeption einer neuen Dichtung.6 Diese

neue

Dichtung

beinhaltet

eine

realistische

Ausdrucksform,

eine

naturwissenschaftliche Analyse des wahren Lebens, eine politische Kritik an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sowie die Entlarvung der sozialen Missstände. 7 1 Vgl. Neuhaus, Volker. 2002: Erläuterungen und Dokumente. Gerhart Hauptmann. Bahnwärter Thiel. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 25. 2 Ebd. 3 Vgl. Hass, Hans-Egon (Hrsg.). 1996: Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke in zehn Bänden. Frankfurt/Main; Berlin; Wien: Propyläen Verlag. Band 7. S. 1061. 4 Vgl. Martini, Fritz. 1970: Nachwort. In: Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 46. 5 Vgl. Meyer, Theo (Hrsg.). 1997: Theorie des Naturalismus. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 3. 6 Ebd. 7 Ebd.

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Dabei gilt die Kunst als subjektive Nachahmung. 8 In sie soll der Verstand eingelassen und eine ausschweifende Fantasie eingeschränkt werden, was den Gegensatz zur Romantik darstellt, in der die Fantasie als 'Urmutter' der Poesie angesehen wurde. 9 Der Kern der Dichtung des Naturalismus ist das Genietum, um das sich alles andere herumlegt; sein Wesen ist die „Neuerung und Erneuerung“, die „Bekämpfung des Alten“ und die „Feindschaft gegen das Herkömmliche“.10 Vom Dichter wird die Beobachtung des Lebens, Klarheit und Schärfe der Bilder sowie die Eindringlichkeit und Genauigkeit der Charakteristik verlangt.11 Seine Fantasie solle groß und kühn sein, Klarheit und Schärfe dürften aber nicht fehlen.12 Außerdem solle die Natur nicht nur nachgeahmt, sondern von ihr gelernt werden.13 Der Dichter müsse die Kunst als Subjekt und Objekt vereinen und brauche daher eine große und reiche Kenntnis von Welt und Wirklichkeit.14 In den Werken selbst werden keine Bösewichter, Heilige oder Genies geboren, sondern sie werden zu dem, was sie sind durch die auf sie wirkenden Verhältnisse. 15 Dabei beginnen sie klein und stümperhaft; nur vererbte Anlagen bleiben von Anfang bis Ende erhalten und werden durch äußere Einflüsse entweder ausgelebt oder unterdrückt. 16 Hauptmanns Werk Bahnwärter Thiel lässt sich in sofern in die Epoche einordnen, als dass man durch die Bezeichnung 'Studie' annehmen könnte, es handle sich um eine wahre Begebenheit.17 Der Begriff Novellistische Studie wird in der Kunst im Sinne von Vorarbeit oder ausgeführte Skizze genutzt und bedeutet außerdem eine 'kurze Erzählung' oder auch eine 'Neuigkeit'.18 Dies wird unterstützt durch eine stabile heterogene erzählte Welt mit einer heterodiegetischen narrativen Instanz, die alles sachlich wiedergibt, ohne sich ins Geschehen einzumischen. Ebenfalls modern für die damalige Erzählweise ist die Wahl der Alltagswelt der kleinen Leute als Handlungsschauplatz, die Darstellung sexueller Triebgebundenheit (Thiels an seine Frau Lene), sowie die Zufallsgeschichte eines in den

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Vgl. Bleibtreu, Karl. 1997: Realismus und Naturwissenschaft. In: Meyer, Theo (Hrsg.): Theorie des Naturalismus. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 122. 9 Vgl. Hart, Julius. 1997: Phantasie und Wirklichkeit. In: Meyer, Theo (Hrsg.): Theorie des Naturalismus. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 142f. 10 Ebd. S. 142. 11 Ebd. S. 143. 12 Ebd. S. 144. 13 Ebd. S. 145. 14 Ebd. 15 Vgl. Bleibtreu, Karl. 1997. S. 121. 16 Ebd. 17 Vgl. Martini, Fritz. 1970: Nachwort. In: Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 45. 18 Vgl. Neuhaus, Volker. 2002: Erläuterungen und Dokumente. Gerhart Hauptmann. Bahnwärter Thiel. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 5.

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Irrsinn stürzenden Menschen.19 Der Alltag Thiels wird zu Beginn der Novelle stark zeitraffend zusammengefasst, sodass der Eindruck von einer soliden Regelmäßigkeit entsteht, von der in der gesamten Erzählung nicht abgewichen wird. Die Außenwelt wird hier zu Spiegel und Projektion der Innenwelt und die Grenzen dazwischen fallen.20 Die Entfremdung eines Menschen vom eigenen Ich und von der Wirklichkeit weist außerdem Züge des expressionistischen Erzählens auf.21 Allerdings wirkt die Sehnsucht Thiels nach dem Überirdischen und Erlösenden eher abweichend vom typischen Naturalismus.22 Dies wird deutlich durch die Kommunikation mit der verstorbenen Frau Minna, durch die Offenheit der Natur, die Sehnsucht nach dem Göttlichen und, nicht zuletzt, durch die Symbolik, die im Folgenden näher erläutert wird. 23 Eine episch-geschlossene Welt wird hier zur dramatisch-gespaltenen und dies ist eher unpassend für den poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts.24

Die Symbolik Allgemeines zum Symbolbegriff Der Begriff „Symbol“ bedeutet 'auf etwas verweisen', 'etwas zusammenwerfen' oder auch 'vereinigen'.25 Symbole sind allgegenwärtig in jeder kulturellen Praxis; sie stiften Kultur durch ihre 'symbolische Ordnung' und dienen der Verständigung. 26 Dabei können sie Handlungen, Gegenstände, Bilder sowie Texte und Filme sein.27 Modi des Symbols an sich sind unter anderem Anschauung, Empfindung, Erlebnis und Erfahrung. 28 Symbole können sowohl als Synonym des konventionellen sprachlichen Zeichens, als auch, in Abgrenzung dazu, als natürliches Zeichen gesehen werden.29 Bereiche, die sich mit der Symbolik befassen sind Religionsgeschichte, Ethnologie und Volkskunde, Kunstgeschichte, Rechtsgeschichte, Literaturwissenschaft und

weitere; es kann

also gar keinen

einheitlichen Symbolbegriff geben.30 19 Vgl. Martini, Fritz. 1970: Nachwort. In: Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 45. 20 Ebd. S. 46. 21 Ebd. 22 Vgl. Martini, Fritz. 1961: Das Wagnis der Sprache. Stuttgart. S. 63ff. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Vgl. Berndt, Frauke. 2005: Symbol/Theorie. In. Berndt, Frauke; Brecht, Christoph (Hrsg.): Aktualität des Symbols. Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag. S. 10. 26 Ebd. S. 7. 27 Ebd. 28 Ebd. S. 14. 29 Ebd. S. 10. 30 Ebd. S. 24.

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Im Bahnwärter Thiel benutzt Thiel beispielsweise einen Pferdezahn, den er täglich in seiner Tasche aufbewahrt, denn er ist sehr abergläubisch und meint, der Zahn würde ihn vor allen möglichen Übeln schützen.31 Auch der Gegensatz von Gesundheit und Kraft in Form von Lene und von Schwäche und Schwerfälligkeit in Form von Thiel hat symbolische Wirkung.32 In Hauptmanns gesamtem Werk wird der Alltag zum Symbol aus dem Mythisch-Schicksalhaftes spricht.33 Im Folgenden sollen nun einige der Symbole näher analysiert werden. Die Eisenbahn und das Wärterhäuschen Die Eisenbahn und die Bahnstrecke bilden das Symbolzentrum der gesamten Erzählung. 34 Fritz Martini bezeichnet sie als „Bahn des unentrinnbar überrollenden Schicksals“. 35 Dabei stehen die Züge für die große weite Welt, die teilnahmslos an Thiel vorüber rast, ohne, dass er sich ernsthafte Gedanken darüber macht, wo sie hinfahren oder wer die Passagiere sein könnten.36 Das Wärterhäuschen bildet den Gegensatz dazu und ist für Thiel eine sichere Insel, zu der er vergeblich versucht zu fliehen und seiner verstorbenen Frau zu gedenken.37 „So erklärte er sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, die er zu besorgen hatte, insgeheim gleichsam für geheiligtes Land, welches ausschließlich den Manen der Toten gewidmet sein sollte.“38 Nachdem

es

zunächst

als

Schutzstätte

gedient

hat,

wird

es

zum

Ort

der

Lebenskatastrophe Thiels.39 Es entwickelt sich eine Tendenz ins Mythische; die Bilder der Gleisstrecke und der vorbeitosenden Züge steigern sich ins Dämonische und Geisterhafte.40 „Auch die Geleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich, aber sie erloschen zuerst; und nun stieg die Glut langsam vom Erdboden in die Höhe, (…).“41 31 Vgl. Neuhaus, Volker. 2002: Erläuterungen und Dokumente. Gerhart Hauptmann. Bahnwärter Thiel. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 12. 32 Vgl. Martini, Fritz. 1970: Nachwort. In: Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 49. 33 Ebd. S. 52f. 34 Ebd. S. 52. 35 Vgl. Martini, Fritz. 1961: Das Wagnis der Sprache. Stuttgart. S. 63ff. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Hauptmann, Gerhart. 1996: Bahnwärter Thiel. In: Hass, Hans-Egon (Hrsg.): Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke. Frankfurt/Main; Berlin: Propyläen Verlag. Band 6. S. 40. 39 Vgl. Martinin, Fritz. 1970. S. 49. 40 Ebd. 41 Hauptmann, Gerhart. 1996. S. 49.

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Durch Stahl und Eisen und die grauen, kalten und bleichen Farben entsteht der Eindruck von etwas Gewalthaftem.42 „Ein Keuchen und Brausen schwoll stoßweise fernher durch die Luft. Dann plötzlich zerriß die Stille. Ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze schnaubende Ungetüm war vorüber.“43 Die Höherentwicklung und Steigerung des Handwerklichen in Form des Maschinenwesens führte zu einem gewissen Stolz auf den Kraftzuwachs im 19. Jahrhundert und auch Thiel ist dem verfallen.44 Er ist stolz auf seine Arbeit und erledigt sie sehr gewissenhaft und vorschriftsmäßig. Die Bahngleise und Telegraphendrähte bilden ein 'Spinnengewebe', das ihn gefangen hält.45 „Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz von Eisen legte es sich um ihn, fesselnd überwindend, erschlaffend.“46 Auch die vielen militärischen Andeutungen untermalen das Mechanische.47 „Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und militärisch gescheitelt wie immer, (…).“

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Thiels Frau Lene erinnert stark an die Lokomotive; sie ist sehr kräftig und gesund und arbeitet mit großem Eifer und auch ihre brutale Triebnatur wirkt maschinenhaft; so werden Mechanismus und Vitales miteinander verwebt.49 Thiel ist an seine strengen zeitlichen Abläufe gebunden; die Taschenuhr dient hierfür als Symbol.50 Mit seiner Dienstverspätung leitet sich also automatisch die Katastrophe ein. 51 Das Zerbrechen des Glases der Uhr und das Wegrollen von Thiels Mütze im Wärterhäuschen untermalen sein Zerbrechen und das Zerbrechen seiner unwandelbaren Gewohnheiten.52 „Seine Mütze rollte in die Ecke, seine peinlich gepflegte Uhr fiel aus der Tasche, die 42 Vgl. Martini, Fritz. 1970: Nachwort. In: Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 49. 43 Hauptmann, Gerhart. 1996: Bahnwärter Thiel. In: Hass, Hans-Egon (Hrsg.): Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke. Frankfurt/Main; Berlin: Propyläen Verlag. Band 6. S. 49f. 44 Vgl. Requadt, Paul. 1957: Erinnerungen an Gerhart Hauptmanns Bahnwärter Thiel. In: Döblin, Alfred (Hrsg.): Minotaurus. Wiesbaden. S. 106. 45 Ebd. S. 104. 46 Hauptmann, Gerhart. 1996. S. 47. 47 Vgl. Requadt, Paul. 1957. S. 103. 48 Hauptmann, Gerhart. 1996. S. 35. 49 Vgl. Requadt, Paul. 1957. S. 105. 50 Ebd. S. 103. 51 Ebd. 52 Vgl. Neuhaus, Volker. 2002: Erläuterungen und Dokumente. Gerhart Hauptmann. Bahnwärter Thiel. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 21.

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Kapsel sprang, das Glas zerbrach. Es war, als hielte ihn eine eiserne Faust im Nacken gepackt, so fest, daß er sich nicht bewegen konnte, sosehr er auch unter Ächzen und Stöhnen sich frei zu machen suchte.“53 Hier wird außerdem noch einmal sehr stark deutlich, wie Thiel sich gefangen und gefesselt fühlt; er kann nicht aus seinem Leben ausbrechen und somit ist die einzige Lösung am Ende der Verfall in den Wahnsinn. Die starre Ordnung der Technik geht somit über ins unmenschlich Dämonisch-Zerstörerische.54 Die Natur und das Eichhörnchen Gerhart Hauptmann selbst liebte das einsame Landleben und verbrachte viel Zeit im Kiefernforst bei Erkner.55 Er beschäftigte sich auch mit den Dorfbewohnern, die so abgeschnitten von der Außenwelt, nichts von Politik und Gesellschaft mitbekamen. 56 Auch Thiel lebt in dieser Abgeschiedenheit und nur die Züge erinnern daran, dass es eine Welt außerhalb seines Dorfes und des Waldes gibt; allerdings interessiert er sich dafür nur wenig. Alle Naturbilder der Erzählung untermalen die Geschehnisse, Thiels Gefühle und Gedanken und dienen gewissermaßen der Verstärkung und Dramatisierung der Ereignisse. Die Bilder der Bahnstrecke mit dem Wärterhäuschen, das für Thiel gleichzeitig als Kapelle dient, wechseln sich ab mit Bildern der weiten Waldlandschaft. 57 Zunächst entsteht der Eindruck einer endlosen und einsamen Gegend, die sehr viel Ruhe und Zurückgezogenheit ausstrahlt. „Im Sommer vergingen Tage, im Winter Wochen, ohne daß ein menschlicher Fuß, außer denen des Wärters und seines Kollegen, die Strecke passierte.“ 58 Das Naturempfinden erscheint angenehm, solange auch Thiel sich wohl fühlt. „Die Sonne goß, im Aufgehen gleich einem ungeheuren blutroten Edelstein funkelnd, wahre Lichtmassen über den Forst. (…) Es lag eine Frische in der Luft, die bis ins Herz drang, und auch hinter Thiels Stirn mußten die Bilder der Nacht allmählich verblassen.“59 53 Hauptmann, Gerhart. 1996: Bahnwärter Thiel. In: Hass, Hans-Egon (Hrsg.): Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke. Frankfurt/Main; Berlin: Propyläen Verlag. Band 6. S. 60f. 54 Vgl. Martini, Fritz. 1970: Nachwort. In: Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 52. 55 Vgl. Hass, Hans-Egon (Hrsg.). 1996: Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke in zehn Bänden. Frankfurt/Main; Berlin; Wien: Propyläen Verlag. Band 7. S. 1027f. 56 Ebd. S. 1043f. 57 Vgl. Martini, Fritz. 1970. S. 49. 58 Hauptmann, Gerhart. 1996. S. 40. 59 Ebd. S. 54.

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Es ändert sich allerdings, sobald in Thiel eine Veränderung vorgeht. Er bemerkt, dass er etwas daheim vergessen hat und sofort entsteht der Eindruck einer gewissen dunklen Vorahnung, die durch die Naturbeschreibungen untermalt wird. „Schwarze Wasserlachen füllten die Vertiefungen des Weges und spiegelten die trübe Natur noch trüber wider.“60 Auch hier finden sich viele metaphorische mythische Elemente; die Natur steht im Gegensatz zur übermenschlichen Eisenbahn.61 Es scheint, als könnten Natur und Technik nicht nebeneinander existieren, ohne sich zu beeinflussen, denn auch in Verbindung mit dem nahenden Zug, erfährt die Naturbeschreibung eine Veränderung. „Die Säulenarkaden der Kiefernstämme jenseits des Dammes entzündeten sich gleichsam von innen heraus und glühten wie Eisen.“62 Die Darstellungen der Landschaften wirken stumm und untergründig; das ErhabenFeierliche des Waldes geht im Verlauf der Erzählung über ins Unheimlich-Bedrückende. 63 Das Verpassen des Zugsignals unmittelbar vor der Vision Thiels könnte als weiterer Vorbote der Katastrophe betrachtet werden und auch an dieser Stelle untermalt die Natur das Empfinden des Bahnwärters in Form eines Sturms, der die Zugdurchfahrt begleitet. „Die Kiefern bogen sich und rieben unheimlich knarrend und quietschend ihre Zweige aneinander. (…) Die Blattgehänge der Birken am Bahndamm wehten und flatterten wie gespenstige Roßschweife. Darunter lagen die Linien der Geleise, welche, vor Nässe glänzend, das blasse Mondlicht in einzelnen Flecken aufsaugten.“64 Durch den dramatischen Modus der Beschreibungen werden die Wirkungen aller Naturbilder noch verstärkt. Das Eichhörnchen wird zunächst von Tobias entdeckt und als 'Gott' bezeichnet, was Thiel nur verspottend kommentiert. „'Vater, ist das der liebe Gott?', fragte der Kleine plötzlich, auf ein braunes Eichhörnchen deutend, (…). 'Närrischer Kerl', war alles, was Thiel erwidern konnte, (…).“65 Nach dem Unfall erinnert er sich allerdings schlagartig daran und bringt es selbstständig 60 Hauptmann, Gerhart. 1996: Bahnwärter Thiel. In: Hass, Hans-Egon (Hrsg.): Gerhart Hauptmann. Sämtliche Werke. Frankfurt/Main; Berlin: Propyläen Verlag. Band 6. S. 45. 61 Vgl. Martini, Fritz. 1970: Nachwort. In: Hauptmann, Gerhart: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam Verlag. S. 49. 62 Hauptmann, Gerhart. 1996. S. 49. 63 Vgl. Martini, Fritz. 1970. S. 52. 64 Hauptmann, Gerhart. 1996. S. 52. 65 Ebd. S. 57.

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mit seiner Vision und dem Unglück in Verbindung. Man könnte das Eichhörnchen einerseits als Symbol für das 'Göttliche' betrachten; dies wäre ein Argument für eine finale Motivierung, die das Unglück bereits vorher ankündigt. „'Der liebe Gott springt über den Weg', jetzt wußte er, was das bedeuten wollte.“ 66 Andererseits steht es für den Moment, in dem Thiel realisiert, was ihm soeben geschehen ist; es könnte also als endgültiger Auslöser für seinen Verfall in den Wahnsinn gesehen werden, der sich in einem langen psychischen Prozess angekündigt hat. In jedem Fall beschreibt es den Moment, in dem Thiel seine Frau Lene für alles verantwortlich macht und sein rationales Denken ausschaltet. Schließlich untermalt das Naturschauspiel des Mondes den Tod von Thiels Sohn Tobias. „Wie

eine

riesige

purpurglühende

Kugel

lag

der

Mond

zwischen

den

Kiefernschäften am Waldesgrund. Je höher er rückte, umso kleiner schien er zu werden, umso mehr verblaßte er. Endlich hing er, einer Ampel vergleichbar, über dem Forst, durch alle Spalten und Lücken der Kronen einen matten Lichtdunst drängend, welcher die Gesichter der Dahinschreitenden leichenhaft anmalte.“ 67 Die Natur wird hier letztendlich zum Symbol der chaotisch-ze...


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